Detroit - Die ganze Wahrheit

Jahr für Jahr werden ahnungslose Studenten nach Detroit an die Wayne State University geschickt.
Wir berichteten, was sie erwartet.

Drei Tage war es her, daß wir mit der eher beiläufigen Bemerkung, demnächst auch Detroit ansteuern zu wollen, bei den uns beherbergenden Amerikanern pures Entsetzen hervorgerufen hatten. Nun lag Kanada hinter uns, die Brücke nach Detroit unter uns und vor uns die Frage, ob der Eindruck wirklich derart verheerend sein würde, wie sie es uns uns prophezeit hatten. Und tasächlich: Schon auf den ersten Metern jenseits der Grenze macht die Stadt unmißverständlich deutlich, daß sie ihr Elend nicht auch nur im Ansatz zu verstecken denkt. Der Straßenzustand scheint Fremde noch ein letztes Mal zur Umkehr auffordern zu wollen, Gräser wuchern zwischen zerbrochenden Betonplatten, erschweren das Erkennen der Schlaglöcher, deren Tiefe und Ausbreitung den amerikanischen Durchschnitt hier noch deutlich übersteigt. Ein Auto, das hier überlebt, schafft es überall, das Straßennetz scheint als Extremteststrecke für die hier beheimateten Konzerne Ford, Chrysler und General Motors konzipiert zu sein. Jenseits der Freeways wechseln sich brachliegende Flächen mit ausgebrannten Industriebauten und aufgegebenen Tankstellen ab, brennende Mülltonnen erinnern an die "Come Together"-Romantik aus Peter-Steuyvesant-Werbespots.
Romantische Gefühle wollten sich bei uns allerdings nicht einstellen, eher überwog der Wunsch, möglichst schnell und sicher den Weg zur Wayne State University zu finden. Das uns das gelang, war wohl eher Zufall als Ergebnis einer schlüssigen Ausschilderung, aber schließlich erreichten wir unser Ziel, wo wir von Tobias, Hermes-Redakteur und derzeit Wayne State Student, herzlich empfangen wurden.

Wayne State gehört zu den amerikanischen Universitäten mit den meisten Studenten aus Übersee (warum wohl?). Während ein Großteil der ausländischen Gemeinde die Verhältnisse in der Stadt gelassen und mit Humor hinnimmt, ist für manche der Schock doch zu groß, so daß eine sofortige Abreise keine Seltenheit ist. Es ist offensichtlich nicht einfach, sich von süddeutschen oder französischen Idyllen auf eine Stadt umzustellen, in der Kriminalität zum Alltag gehört. In dem drei Wochen alten Semester waren bereits zwei deutsche Austauschstudenten nicht weit von ihrer Haustür überfallen worden. Auch wenn dabei stets nur Geld, nicht aber Leben oder Gesundheit verloren ging, ist die Aussicht, plötzlich einen kalten Pistolenlauf an der Schläfe zu fühlen, sicherlich nicht allzu verlockend.

Hohe Kriminalität und der Verfall der Innenstädte sind Probleme, mit denen sich nahezu jede amerikanische Großstadt konfrontiert sieht. Während es anderswo neben heruntergekommenen Vierteln aber auch aufstrebende, belebte, attraktive Gegenden gibt, scheint Detroit fast völlig aufgegeben worden zu sein. Erst in den suburbs weit draußen vor der Stadt  bessern sich die Verhältnisse. Natürlich hat auch Detroit eine Downtown mit den üblichen Wolkenkratzern, doch von Leben ist auch dort nichts zu spüren. Die Angestellten strömen morgens in die Parkhäuser und abends zurück in die Suburbs, ohne sich eine Minute zu lange aufzuhalten. Die heruntergekommen Viertel fressen sich immer weiter an das Zentrum heran. Das größte Kaufhaus der Stadt, einst ein prächtiger Konsumtempel wie Harrods in London oder Macys in New York, hat schon vor Jahren seine Pforten für immer geschlossen. Seitdem sind Fenster und Türen vernagelt, daß Gebäude wird nicht mehr genutzt.

Es ist kein zwangsläufiger Prozeß, der eine Stadt so verkommen läßt, sondern zu einem guten Teil auch der fehlende politische Wille, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Es wurde Geld investiert in Detroit, aber in Prestigeprojekte wie eine pittoreske Schwebebahn, die in der Innenstadt die Fahrt von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer, nicht aber in andere Stadtviertel ermöglicht. Angeblich wird sie fast ausschließlich von Briefträgern benutzt. In direkter Nachbarschaft der Wayne-State-Uni befindet sich das Detroit Institute of Arts mit einer beeindruckenden Sammlung von Kunstwerken aller Art, aller Kontinente und aller Epochen. Finanziert wurde es vor allem durch Spenden der Automobilindustrie. Neben diesen wenigen Wohlstandsinseln blüht aber nur der Verfall und die Kriminalität. In manchen Gegenden arbeitet die Polizei schon überwiegend mit Hubschraubern und Suchscheinwerfern, um kein zu großes Risiko einzugehen. Bei unserer Ankunft meldeten die Zeitungen gerade den dritten erschossenen Polizisten des Monats.

Da beruhigt es doch, daß die direkte Umgebung der Universität als relativ sicher gilt und der Campus sogar durchaus ansehnlich ist. Zum Niveau der Ausbildung fällt mir das Urteil schwer, da ich in den beiden Vorlesungen, die ich während unseres Aufenthalts besuchte, kein Wort verstand. Der eine Profesor sprach nämlich aufgrund einer Erkältung überhaupt nicht, sondern schrieb lediglich auf der Tafel vor sich hin (wenig Spektakuläres), der andere war ein frisch aus Korea eingetroffener Ökonometriker, dessen asiatisch verschobene Aussprache auch für die Amerikaner nur ansatzweise zu verstehen war.

Detroit schließlich zu verlassen, war ein sehr angenehmes Gefühl, eine sich auflösende Beklemmung, eine heimliche Freude, wieder Straßen in normalem Zustand mit normalen Autos (und nicht halb ausgebrannten Vehikeln ohne Fahrertür) teilen zu dürfen. Trotzdem kann ich zumindest widerstandsfähigen Gemütern ein Studienjahr in Detroit nur empfehlen. Wenn Wayne State auch nicht zu den besten (oder zweitbesten) Unis der Vereinigten Staaten zählt, läßt sich dort doch zweifellos noch mit Gewinn studieren - in manchen Gebieten wohl auch besser als bei uns. Auch wenn die Vergnügungsangebote der Stadt eher karg sind, ist durch die vielen anderen Studenten aus aller Welt immer für gute Unterhaltung gesorgt. Die Kriminalität ist zweifellos ein Problem, aber zu Hysterie besteht kein Anlaß. Wer die üblichen Verhaltensregeln beachtet, darf sich durchaus hinlänglich sicher fühlen. Und schließlich kann es gerade für Ökonomen nur von Nutzen sein, in Detroit, wo der amerikanische Traum einst mit Henry Ford begann und sich heute gründlicher als anderswo zum amerikanischen Trauma gewandelt hat, zu studieren und dabei die soziale Dimension seines Faches zu erkennen.

 Matthias Döpke