Nationalökonomie, Mathematik und Philosophie

Ein Interview mit Wassily Leontief

W. Leontief im Gespräch mit Studenten

Hermes: Wie empfanden Sie als Student das Klima an der Berliner Universität in den 20er Jahren ?

W. Leontief: Ich mochte es sehr gerne. Die Weimarer Republik war sehr interessant, man diskutierte viele Probleme, alles war sehr frei, die Studenten waren an allem interessiert- und natürlich gab es nicht nur das Studieren; auch das ganze Kulturleben in Berlin um diese Zeit war sehr reich. Theater, Musik, Diskussionen- von diesem Standpunkt aus gesehen war es eine gute Zeit.

Wie entwickelten sich Ihre Beziehungen zu Ihrer Heimat, nachdem Sie sie verließen? Fühlen Sie sich immer noch Ihrer Heimat verbunden?

Natürlich, die Beziehung bleibt. Nachdem ich Russland verlassen hatte, das war 1925, habe ich eigentlich niemals professionell die russische Ökonomie studiert, das ist nicht meine Spezialität. Sehr oft glaubte man, daß ich das studieren sollte, weil ich Russe bin, ich habe es nicht getan. Aber nachdem Gorbatschov alles übernommen hatte, kamen sie sehr oft zu mir. Ich versuchte, sie zu beraten, aber es fiel mir nicht leicht. Viele Nationalökonomen sind immer geneigt, zu allem Ratschläge zu geben, ich fand das nicht sehr schön. Aber ich versuchte es. Zum Beispiel kamen jeden Monat 100 russische frischgebackene Unternehmer in die Vereinigten Staaten, und ich habe Kurse organisiert, das "Leontief-Seminar".  In diesem Sinne also, und dann, ganz offen, die Russen denken wissenschaftlich und manchmal politisch nicht in der gleichen Weise, wie mir heute klar wird.

Aber Sie fühlen sich mehr als Amerikaner denn als Russe, wo Sie doch in Russland geboren sind?

Ich bin eigentlich Amerikaner. Ich spreche russisch, aber ich glaube, ich bin ein Amerikaner, der Russland versteht, besser als viele andere Amerikaner. Und ich denke, sehr viele sogenannte ökonomische Probleme sind eigentlich politische und soziale Probleme. Zu Besuch komme ich noch nach Russland, aber ich bin ein Teil der amerikanischen oder westlichen Wissenschaft.

Die Preise der Frauen sind gestiegen

Sie haben in Ihrer Rede gesagt, daß die Studenten auch heute interdisziplinär studieren sollen...

Ja, das ist sehr schwer. Man spricht immer davon, aber ich glaube, die Professoren arbeiten nicht oft interdisziplinär. Diese Teilung ist so eingebaut in das ganze System. Jede Disziplin hat gewöhnlich ihre eigene Terminologie, und von einem ins andere zu übersetzen ist nicht leicht. Es gibt zum Beispiel eine gute Zusammenarbeit zwischen den Soziologen, Anthropologen und den Nationalökonomen. Die Anthropologen studieren sehr oft die wirtschaftlichen Beziehungen, besonders in den relativ einfachen Gesellschaften. Und die Kenntnis der Nationalökonomie erleichtert das Verständnis. Ich erinnere mich zum Beispiel; während des Krieges lebten viele amerikanische und australische Wissenschaftler im mysteriösen Südostasien; wie nach dem Kriege ein australischer Anthropologe ein sehr interessantes Buch geschrieben hatte, wo er eingehend beobachtete, wie der technische Fortschritt die noch primitiven Gesellschaften veränderte. Er führte ein Experiment durch, wo er einem Stamm in Papua-Neuguinea Äxte gab. Sie konnten anfangs noch keine Bäume fällen. Ihr Leben veränderte sich sofort. Sie konnten viel mehr produzieren, ihr Einkommen stieg, das ganze soziale Leben wandelte sich. Zum Beispiel stiegen die Preise der Frauen stark an, weil jeder Mann plötzlich reich war. (Wenn man eine Frau haben wollte, so mußte man sie kaufen.)

Hatten Sie nach dem Krieg, zu Zeiten der DDR,  immer noch Kontakte zu Ihrer alten Universität?

Nein. Aber ich hatte natürlich Kontakt mit einigen deutschen Wissenschaftlern. Obgleich man doch sagen muß, daß sich Deutschland nach dem Kriege, trotzdem so viel Zeit verging, nicht ganz eingegliedert hat in die westliche Wissenschaft. Es geht noch immer langsam. Aber zum Beispiel der  Krelle, den kenne ich gut, den habe ich ja etwas studiert. Ich kenne viele deutsche Wissenschaftler, glaube aber, daß die englische Theorie jetzt herrscht, auch in Europa. In den letzten Jahren vor dem Umsturz hat man sogar in den sozialistischen Ländern etwas Input-Output-Analyse betrieben, aber ich hatte dazu sehr wenig Beziehung.

Glauben Sie, daß die Input-Output-Analyse der Politik umfassende Möglichkeiten zu staatlichen Eingriffen eröffnet? Wie stark dürfen diese sein?

Staatliche Eingriffe sind ganz unvermeidlich. Ohne staatliche Teilnahme kann die Tauschökonomie, die Marktökonomie, nicht existieren. Immer wird etwas schief gehen und man muß einiges korrigieren. Der Staat kann eine sehr große Rolle spielen, aber das gibt natürlich Probleme. Der Karl Marx hat es verstanden.
Ein Land, welches diese Analyse ganz systematisch betreibt und für staatliche Eingriffe gebraucht, ist Japan. Auch in Holland wird sie in großem Maßstab angewandt.

Sie wurden sehr früh wissenschaftlich attackiert. Spielten dabei ideologische Vorbehalte eine Rolle?

In jeder Wissenschaft gibt es einen Widerstand und in diesem Sinne ist die Input-Output-Analyse etwas schwer zu akzeptieren von der traditionellen neoklassischen Schule. Ideologie spielt immer eine gewisse Rolle, natürlich auch heute noch.

"...etwas bösartig."

Herr Prof. Burda sagte in seiner Laudatio, daß Sie bereits 1970 bemerkten, daß die Mathematik innerhalb der Nationalökonomie nicht zum Selbstzweck werden darf...

Ja, wissen Sie, es wird manchmal übertrieben. Mathematik ist eigentlich sehr nützlich, weil sie den gesamten Prozeß rationalisiert, und man auch bei komplizierten Zahlen alles schön erklären kann. Was geschehen ist - und da bin ich etwas bösartig- in der Vergangenheit gab es Mathematiker, die nicht gut genug waren, um eine mathematische Karriere zu machen. So gingen sie in die Nationalökonomie und haben dort ihre Mathematik betrieben, ohne die nationalökonomischen Grundprobleme gut zu kennen.Sie machten einen großen Eindruck, weil, man hat ja so einen Respekt vor der Wissenschaft. Aber das ist etwas böse, was ich da sage.

Wie hat sich die Mathematisierung der Nationalökonomie weiterentwickelt?

Ich habe die Sache nicht so genau verfolgt. Aber wenn ich die sogenanten führenden theoretischen Zeitschriften lese, die mathematisch sind, da finde ich nicht viel. Man macht irgendwelche  theoretischen  Annnahmen, ohne sie zu verifizieren, um eine schöne Deduktion durchzuführen. Wenn ich so einen Artikel sehe, dann lese ich nur die Seite mit den Annahmen und die letzte Seite mit den Schlüssen, weil ich schon darauf vertraue, daß der Herr Herausgeber kontrolliert, daß in der Mathematik keine Fehler sind. Unsere Studenten verbrauchen sehr viel Zeit ihres Studiums dafür, diese Mathematik zu bewältigen. Ich weiß nicht, wie es hier ist. Mathematik ist sehr wichtig, ohne sie kann man gar nicht die komplizierte Theorie darstellen. Aber sie ist nicht die Hauptsache. Es gibt so eine Art mathematische Intuition, für manche ist es leicht, für manche nicht.

Was sind für Sie die größten Probleme gegenwärtig in der Welt, und gibt es bei deren Lösung eine Aufgabe für die Nationalökonomie?

-Ja. Aber die Probleme verändern sich. Wichtigkeit ist natürlich eine Frage der Beurteilung. Ich glaube, daß die sozialen Probleme, die Struktur der Gesellschaft, die Einkommensverteilung sehr wichtige Probleme sind. Sie sind das immer gewesen, aber in der heutigen Gesellschaft besonders.

Spaß am Studieren

Sie sagten gestern in Ihrem Vortrag, daß Sie nach langen Jahren in der Nationalökonomie wieder zur Philosophie zurückgekehrt sind...

Wissen Sie, ich habe mich immer für philosophisch-methodologische Fragen interessiert. In der Wissenschaft sind die methodologischen Fragen sehr wichtig. Sie sind eigentlich philosophische Fragen, und ich rate allen Studenten, etwas über den engen Horizont hinauszuschauen. Das ist sehr wichtig. Es ist auch interessant und macht mehr Spaß, und das Studieren muß doch Spaß machen.

Was halten Sie von Eliten?

Das ist natürlich eine interessante Frage. In unserer amerikanischen Konstitution, die eigentlich die Denkweise des 18. Jahrhunderts widerspiegelt, wird gesagt, daß alle Menschen equal sind. Das ist nicht richtig, glaube ich. Die Menschen sind nicht equal, es gibt sehr viele Unterschiede. Und ich denke, Eliten spielen immer eine große Rolle. Sie können selbst sehen in der Geschichte, wer die Gesellschaft leitet. Nicht nur in den autoritären, sondern auch in den demokratischen Ländern gibt es eine aktive Gruppe, die das Land regiert, das kann man nicht verneinen.

Was machen Sie, wenn Sie sich nicht mit der Wissenschaft beschäftigen?

Ich mag die Kunst sehr, vor allem Malerei und Skulptur.Meine Tochter ist eine bekannte Kunsthistorikerin, und wir sprechen sehr oft über die Probleme der Kunst. Und meine Frau schreibt auch, sie ist eine Dichterin. Also mein Leben besteht nicht nur aus Wissenschaft und Nationalökonomie, sondern auch aus anderen Dingen, die mich sehr interessieren.

Vielen Dank, Herr Leontief, für dieses Gespräch.

Christian Müller (Foto) und Beatrice Kühn

 
Input-Output-Analyse

Ihr theoretisches Fundament wurde 1936 von Wassily Leontief in einem Aufsatz  gelegt. Er wies in seinem Buch über die Struktur der amerikanischen Wirtschaft von 1919 bis 1939 auch ihren Nutzen für die Praxis nach.

Die Volkswirtschaft wird in Sektoren eingeteilt und in einer Matrix dargestellt, in deren Zeilen die liefernden Produktionszweige und in deren Spalten die empfangenden Produktionszweige eingetragen werden. Man kann somit aus den empirischen Daten des Inputs ( entspricht Werthinzuführung und Kosten im betriebswirtschaftlichen Sinne ) und des Outputs ( entspricht dem Bruttoproduktionswert ) die gegenseitige Abhängigkeit der Branchen ermitteln.

Desweiteren lassen sich mit Hilfe des Modells strukturelle Größen errechnen und auch die Folgen ihrer Veränderungen. 
Kritiker dieser Methode bemängeln vor allem die Annahme homogen-linearer Produktionsfunktionen und die Annahme technischer Aufwandskoeffizienten. Die Zusammenfassung der verschiedenen Wirtschaftseinheiten zu Sektoren werfe eine Reihe von Problemen auf.

Leontief ist der Meinung, daß diese Fehler vernachlässigt werden können.