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Mittwoch, der 11. Oktober 1995. Die Einführungsveranstaltungen zur BWL und VWL an der altehrwürdigen Humboldt-Universität zu Berlin beginnen. Mein erster Tag. Ich bin ja so aufgeregt.

Ich folge den festlich geschmückten Erstsemestlern mit ihren Anzügen, Kleidchen, teuren Pullovern, Krawattennadeln, blondierten Kurzhaar- und Fönfrisuren zum "Zwei-Null-Eins" genannten Raum. Langweilige Frisösen- und Bauarbeitergesichter zeugen vom Verfall des einst ach so strengen NC's.

Vor der ersten Veranstaltung wird mir ein weißes Blatt in die Hand gedrückt, auf der Vorderseite voll mit "Corps Rheno-Guestphalia"-Terminen (was immer das für  eine Sekte ist), auf der Hinterseite mit Stundenplanvordruck, wobei mein zukünftiger "Rheno-Abend" freitags 20.00 Uhr schon eingetragen ist. Um nicht auch noch gleich von irgend jemandem getauft zu werden, verzichte ich dankend auf das kleine ockerfarbene Büchlein am Tisch gegenüber.

Der Saal ist voll, es riecht jetzt schon nach Schweiß. Ein Mann genannt Blankart tritt ans Pult und stellt sich als "Prodekan" vor (was auch immer das schon wieder ist). Anscheinend will er uns zu irgendwas bekehren. Ist auch er ein Jünger dieses mysteriösen Rheno-Corps ? Bin ich denn hier nur von Vereinsmeiern umgeben ?

Im folgenden referieren noch einige Leute, z.B. ein gemütlicher Prof. Wickström (von den Buddhisten ?) über eine spartanische Studienordnung und die Frauen Völzke und Eichler (Zeugen Jehovas?) über himmlische Englischübungen. Und alle berufen sich bei Unklarheiten immer wieder auf den alles wissenden Herrn Schäfer, scheinbar der Oberguru aller Wirtschaftsanbeter.

Insgesamt scheint mir das Studium hier mit seinen äußerst eng beschnittenen Wahlmöglichkeiten  ziemlich verschult zu sein. Das Klingeln reißt mich aus diesem Gedanken. Das Klingeln ? Nein ! Bitte nicht ! Das grausame Unvermeidliche geschieht wahrhaftig, das BWL-Klischee an sich wird schrecklich grandios manifestiert.  Eine Sitzreihe vor mir langt ein Erstsemestler in die Innentasche seines Jacketts und zaubert furchtbar wichtig sein Handy hervor. Ich verlasse den Saal.

Nach einigen Überlegungen erkenne ich, daß ich mir vielleicht doch solch einen kleinen ockerfarbenen "Studienführer" hätte geben lassen sollen. Begleitet von einem standhaften Kommilitonen klopfe ich also aufgeregt an die Tür der "Studienberatung" in Raum 9 und öffne sie dann. Doch ehe ich auch nur ein Wort formulieren kann, wird mir machtbewußt entgegengebrüllt: "Keine Sprechzeiten ! Morgen wieder !" Bin ich hier im Finanzamt ? Hat der allgewaltige deutsche Bürokratismus seine Wurzeln schon so tief in die angeblich so unkonventionelle Hochschulsphäre dringen lassen ?

Nein, ich glaube an das Gute am Studium. Ich begebe mich zur Mathematik-Einführungsvorlesung, um mich von dem souveränen Prof. Helmes mit Parolen wie "Mathematik ist einfach, aber sehr arbeitsintensiv !" bombardieren zu lassen und mich zusammen mit meinen 212 anderen Kommilitonen einem zweifelhaften Selbsttest zu unterziehen, den gerade mal 4 Genies bestehen. Nach des Dozenten Worten sollen jetzt die 98 % Mathematikidioten seinen Brückenkurs besuchen, was für eine clevere Taktik ! Zeige dem Studenten, daß er nichts kann, um ihm dann Schritt für Schritt all das zu erklären, was  er eigentlich alles schon weiß.

Den Donnerstag auslassend erscheine ich am Freitag, dem Dreizehnten, wieder in meiner neuen Heimat, da ich mich für zynische, verbrauchte ältere Semester und damit für meine eigene Zukunft interessiere. Was mir hier jedoch unter die Augen tritt, ist eine Gruppe von Leuten, die erstens erstaunlich normal aussehen und zweitens das löbliche Ideal haben, den armen Studienanfängern die Prüfungs- und Studienordnung begreiflich zu machen ! Und es mittels Spiel und Gespräch auch schaffen ! Kompliment, es gibt doch noch das Gute in der Uniwelt.

Meine erstsemesterlichen Erlebnisse in den folgenden Tagen lassen sich wie folgt resümieren:

1. "Mathematische Aufgabenstellungen kann man einerseits quantitativ, äh, andererseits aber auch, äh, quantitativ betrachten !" (in Wort und Schrift Prof. Helmes)

2. Rechtsvorlesungen können sowohl stocklangweilig (Arbeitsrecht/Pawelzig), als auch relativ interessant (Handelsrecht/Schwintowski) oder sogar amüsant (Bürg. Recht/ Wandtke) sein.

3. Buchhalter sehen auch wie Buchhalter aus.

4. Mikro I und Marketing (empfohlen für das 3. Sem.) sind auch für Erstsemestler verständlich, zumal man endlich mal was Interessantes lernt.

5. Bei einer zwar sympathischen, aber etwas nervenden Frau Ott, deren manchmal überschnappende hohe Stimme ständig einen Kreislaufkollaps erwarten läßt, die durch ihre nervöse Fuchtelei jederzeit einem Hubschrauber gleich abzuheben droht und dabei undefinierbare Wellenlinien auf die Folie malt, die etwas trockene Volkswirtschaftslehre zu verstehen, ist so gut wie unmöglich, und das erst recht, wenn die Dozentin auch noch krächzenderweise erkältet ist.

6. Manchen Dozenten sind ihre eigenen Witze nicht einmal dann peinlich, wenn der Brüller im schweigenden Unverständnis versiegt.

7. Studienordnung scheint hier synonym mit Chaos zu sein. Unverzeihlich, wenn ein Herr Schwintowski  erst in der zweiten Hälfte seiner Vorlesung erfährt, daß der Großteil seiner Hörer erst im 1. Semester ist und vom Tuten, Blasen und BGB keinerlei Ahnung hat, oder wenn Prof. Haegert resigniert feststellt, daß es zwar 11 Fallstudienübungsgruppen gibt, aber allein bei ihm schon 60 Leute sitzen.

8. Freitag vormittags ist in diesem Hause grundsätzlich niemand zu erreichen.

9. "Wer nichts wird, wird Betriebs- oder Volkswirt."

upss