Wo wir lernen

Fünf Tage die Woche besitzen wir sie, aber es werden immer weniger: Sie sind wohl eine vom Aussterben bedrohte Art. Rettung ist nicht in Sicht. Die Rede ist von den Vorlesungssälen und -löchern an unserer Fakultät. Eine beispielhafte Beschreibung des täglichen Grauens. Fangen wir da an, wo die meisten von uns anfingen.

201. Der größte der Vorlesungssäle. Die Bestuhlung ist als einzige in unserer Fakultät gepolstert. Leider sind Polsterstühle nicht notwendigerweise bequem. Rückenschmerzen? Immerhin lassen uns die Sitze so erscheinen, wie wir uns vor den Dozenten vorkommen sollen, als Wichte. Die Tafel versteckt sich gerne mal hinter dem längsten Tisch unserer Fakultät. Und immer sind wir von den formschönen Lampen an den Wänden geblendet. Für Frischluft ist durch die undichten Fenster gesorgt.

202. Frühstücksradio direkt in die Vorlesung – Hundert,6. Leider auch Mittags- und Nachmittagsradio. Stuhl-Tischkombination mit Antiquitätentouch. Die Vorlesung wird ab und an vom Lärm unachtsamer Studenten gestört, die sich versehentlich auf ihren Tisch stützen, der dazu offensichtlich nicht gedacht ist und geräuschvoll zusammenklappt. Auch dieser Raum glänzt durch einwandfreie Sicht auf Overheadprojektor und Tisch. Leider müssen einige Dozenten immer noch die dahinterliegende Tafel benutzen.

205. Die ungebändigte Kraft einer Dozentin beraubte der Tafel ihrer Kreideleiste. Seither hängt sie mutlos im Raum, ohne nach oben oder unten geschoben werden zu können. Die stilsichere Kombination von Stockflecken und Stromleitungen, die Decke und Wand bedecken, verleiten immer wieder zum träumen.

207. Computerraum. Ohnehin bald gestrichen. Für den Ausbau des Ersatzraumes im Keller fehlt das Geld.

Flügelwechsel.

126. Der "Moderraum" – so benannt von einem Dozenten. Kein Raum für schwache Gemüter. Vorne die Tafel hat Symbolcharakter – sie ist schief. Rechts hüfthohe Fenster. Oben Kellergewölbedecke. Hinten Toilettenleitung. Braune Flecken an der Wand lassen kein besonderes Vertrauen auf ihre Dichte aufkommen. Die Geräusche der Spülung erheitern bzw. erschrecken die Einsitzenden, je nachdem, wo sie sitzen.

127. "Keller" von 126. Beide zusammen waren mal ein recht hoher Raum – bis der Zwischenboden kam. Ebenfalls Kellergewölbedecke. Aber keine schiefe Tafel.

125. Eigentlich immer überfüllt. Denn der arme 125er muß den fehlenden Raum für mittelgroße Vorlesungen ersetzen, der einmal 130 hieß. Der aber teilte das Schicksal vieler Artgenossen und wurde "wegrenoviert".

24. Die Kapelle. Grabesstimmung. Aber man saß immer in der ersten Reihe – oder hat nichts verstanden, denn die Akustik des Raumes wußte dies zu verhindern. Gesehen hat man auch nichts, denn Tafeln auf Stühle gestellt lassen sich nun mal nicht nach oben schieben. Immerhin umweltfreundlich, da unbeheizt und Energie gespart. Aber weiter, die Kapelle ist im Moment ohnehin geschlossen.

Das waren natürlich nicht alle Räume, es gibt noch fünf andere gleicher Art. Aber ich würde mich wiederholen.
Selbst in den entferntesten Ecken der Welt, in den unterentwickeltsten Ländern würde man sich dieser Räume schämen. Nur in unserer Spitzenfakultät stört es keinen, wenn Studenten, aber auch Gastdozenten, die ihr Bild unserer Fakultät nach außen tragen, in solchen Löchern lernen und lehren müssen.

Bald werden – endlich – die meisten Räume renoviert. Nur leider sind sie dann keine Vorlesungsräume mehr, sondern Büros. Für die Renovierung zukünftiger Büroräume gibt es nämlich Geld. Da paßt auch eine – inzwischen wieder verworfene – Raumplanung ins Bild: Sie sah überhaupt keine Vorlesungsräume an unserer Fakultät vor.

Andreas Pick