Pioniergeist und Wildnis

Farmleben am Rande der Canadischen Rockies

Lake Abraham “Das Leben in Canada besteht daraus, sich auf den Winter vorzubereiten, den Winter zu ertragen und sich vom Winter zu erholen”, meint ein Humorist. Für den mittleren Westen Canadas scheint dies auch den Nagel genau auf den Kopf zu treffen, denn in der Provinz Alberta, wohin es mich verschlagen hatte, beginnt die kalte Jahreszeit bereits im Oktober und endet nach harten Monaten erst im April oder Mai.

So waren die -25°C bei meiner Ankunft, Ende Februar in Calgary schon fast eine flauschige Wärme zu nennen, denn hier, am Rande der Prärie sind zu dieser Zeit Temperaturen von bis zu -60°C anzutreffen. Voller Spannungen erwartete ich die Farm, welche 250 km nordwestlich am Fuße der Rockies gelegen ist. Hier wollte ich nun ein halbes Jahr zubringen. Als Großstadtpflanze mit gelegentlichem Landaufenthalt stand dann bei meiner Ankunft auf der Farm die Welt zunächst auch erst einmal auf dem Kopf. Ich wußte zwar, daß meine Gastgeber etwa 80 Fleischrinder beherbergen, als ich aber nach den Ställen fragte, begegnete mir nur ein Schmunzeln auf den Gesichtern.

Ich konnte überhaupt nicht begreifen, daß die Tiere bei diesen Temperaturen im Freien gehalten werden, zumal ich wußte, daß die Zeit der Kälbergeburten angesagt war. So konnte ich in den nächsten Wochen eine Menge in Puncto Tierhaltung und Farmleben dazulernen. Die Kälber zum Beispiel genießen einen seltenen Service, wenn sie denn bei diesen Temperaturen zur Welt kommen. Sobald sie das Erdenlicht erblicken, werden sie ins Haus gebracht und erst einmal kräftig trocken geföhnt sowie mit der ersten Milch aus der Flasche verwöhnt. Danach gibt’s etwas Jod für den Nabel, Selen aus der Spritze und eine Ohrmarke. So sind die Kleinen bestens gewappnet um dann bei ihrer Mutter auf den Sommer zu warten, denn Muttertierhaltung ist hier gang und gebe. Durch die extreme Witterung sind die Farmersleute allerdings gezwungen aller 2-3 Stunden, auch des Nachts die Kühe zu checken, ob sich denn eine Geburt ankündigt.

Das Leben auf einer Farm ist nicht unbedingt das leichteste, aber wie so vieles hat auch diese Medaille zwei Seiten. Die Farmer erhalten keinen Cent an Subventionen oder gar Flächenstillegungsprämien (einzige Ausnahme bildet der verbilligter Treibstoff). Sie müssen schauen, daß sie ihre Tiere auf der Auktion gut verkaufen können und so mancher Hammerschlag, der fiel,  entschied über das Schicksal von Sein oder Nichtsein. Die Farmer warten daher auch nur auf eine Liberalisierung des Weltmarktes, denn dann brechen für sie rosige Zeiten an. Durch den Zwang zu Marktpreisen produzieren zu müssen wären sie den europäischen Bauern dann weitaus überlegen, ohne Gefahr zu laufen, mit Einbußen konfrontiert zu sein. Gleichzeitig sind die Menschen aber froh, sehr naturverbunden und “normal” leben zu können. Außer der Erdölförderung und  -verarbeitung gibt es im Umkreis von 1000 km kaum Industrie und somit auch kaum Umweltprobleme.

In Alberta leben ca. 5 Mio. Menschen, auf einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie Deutschland. Das Gros der Einwohner verteilt sich auf die zwei Großstädte Calgary und Edmonton und der Rest verliert sich auf ein paar Farmen und in kleine Ortschaften. Durch die geographische Lage ist die Natur sehr rauh und kaum “bezwungen” - eine stärkere Besiedlung findet erst seit etwa 80 Jahren statt. Dadurch ist hier auch noch ein Menge von dem vielgerühmten Pioniergeist vorhanden. Viele geschichtlich gewachsene Konventionen existieren nicht und die meisten Menschen leben in erster oder zweiter Generation in der Gegend. Die Hilfsbereitschaft ist enorm und das soziale Leben hat eher einen umgekehrten Charakter als in Deutschland. Die Menschen versuchen sich nicht in ihre Privatsphäre zurückzuziehen und möglichst hohe Mauern aufzubauen. Im Gegenteil, Besuche bei den Nachbarn sind an der Tagesordnung, Ruhe gibt’s zu Haus genügend.

black bear puppies Zu den eindrucksvollsten Erlebnissen meines Aufenthaltes gehört die Art und Weise, wie mit den Tieren und der Natur umgegangen wird. Die Farmer leben nicht nur mit ihren Nutz- und Haustieren, sondern zwangsläufig auch mit den wilden. Hier scheint das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur noch in Ordnung. Die Wildnis hat sogar eher ein Übergewicht. So passiert es nicht gerade selten, daß das eine oder andere Lamm von einem Coyoten gerissen, oder ein Grizzly in der Gegend gesichtet wird und so manches mal ist man auf der Sommerweide mit dem Gewehr unterwegs, da ein shake hands mit einem Grizzly oder Schwarzbären nicht so angenehm sein soll. Schwarzbären haben außerdem noch die unangenehme Eigenschaft sehr gute Kletterer zu sein, so daß nicht einmal die Flucht auf den nächsten Baum viel bewirken kann.

Überhaupt ist das Wildleben ungemein faszinierend. Als wir einmal im Winter zum Heuholen aufs Feld gefahren sind waren etwa 60-70 Rehe und Hirsche um den Heustock versammelt. Sie zogen sich beim herannahenden Trucklärm etwas zurück und blieben  in respektablen Abstand “protestierend” stehen, so als ob sie uns sagen wollten, daß es doch eine Unverschämtheit sei, daß wir ihnen nun auch noch das Heu wegnehmen. Am schönsten kann man aber die Wildnis zu Pferde erleben.

Das Cowboyleben existiert hier nicht nur als Kindheitstraum sondern ist zum Teil auch hartes Alltagsleben. Entschädigt wird man aber bei so mancher Stunde im Sattel von Begegnung mit Elchen und anderem Wild. Und die Kühe über die Weide zu treiben und einzukreisen, macht Pferd und Reiter immer wieder Spaß. Auch dem Stachelschwein sollte man nur mit gebührendem Abstand begegnen, denn der Schwanz hat eine unglaubliche Schnelligkeit und eh’ man sich versieht, erfreut man sich der schönsten Stacheln mit perfekten Widerhaken. Sie sind so scharf und hartnäckig, daß sie sich sogar in einem harten Besenstil verhaken. Dem Biber kann man in der Dämmerung beim Dammbau begeistert zuschauen. Vor einigen Jahrzehnten noch vom Aussterben bedroht ist er mittlerweile in Canada eine Landplage, da er außer den Hutmachern kaum “natürliche” Feinde besitzt. So fällt er fleißig Pappeln ins Wasser, baut Burgen und Dämme, überflutet Straßen, vermehrt sich und setzt dann und wann die Kanalisation in Calgary Schachmatt.

Unser europäisches Landwirtschaftsleben “gewohnt”, hielt ich es natürlich auch nicht für möglich, daß sich ein Farmer auch nur kurze Zeit von seinem Hof entfernt, doch auch hier wurde ich eines besseren belehrt. Die Muttertierhaltung bei den Fleischrindern macht es möglich, denn sind die Tiere erst einmal auf der Sommerweide, braucht man nur aller 3-4 Tage nach ihnen zu schauen ob denn alles in Ordnung ist und der Bulle seiner Aufgabe nachkommt. Dieses Checken der Kühe übernimmt aber auch ohne Probleme mal der Nachbar und schon hat man Zeit in die nahen Berge zu “fliehen”. Die Pferde werden in den Horsetrailer gepackt und schon geht es auf in die Rockies zum Reiten und Fischen und trotz dem man in einer traumhaften Landschaft unterwegs ist, sind die Touristenströme weit entfernt. Hier in den Bergen sollte man dann besonders auf die Bären aufpassen, denn zwischen eine Bärin und ihr Junges zu kommen hat meistens tödlichen Ausgang. Ein geflügeltes Wort in Canada besagt, daß man im Gebirge kein Parfum benutzen sollte, damit der Bär einen nicht mit einer großen Blaubeere verwechselt.

Bei all der Farm- und Wildnisromatik gibt es allerdings in der Region einen großen sozialen Konflikt zwischen Farmern und Indianern. Die canadische Regierung hat große Landstücke an die Indianerstämme zurückgegeben und sie zahlt den Indianern eine gewisse Summe zum Unterhalt. Das hilft nicht, die zerstörte Kultur der Indianer wiederherzustellen, es ist allenfalls dafür gut, das schlechte Gewissen, über Geschehnisse der Vergangenheit etwas zu entlasten. Aber genau dieses Geld, welches die Regierung an die Ureinwohner zahlt ist Grund für viel Ärger, da die Indianer dadurch auch ohne Arbeit überleben können und manche einen Großteil von dem Geld für Alkohol verwenden. Gleichzeitig gehen aber viele Farmer Konkurs und bekommen dann gerade nicht solche Transferzahlungen.

Bei allem für und wider, auf und ab habe ich auf jeden Fall in dem halben Jahr Farmleben gelernt, mit wie vielen unnützen Sachen man sich im deutschen Alltagsleben belastet und mit wie wenig Dingen man sehr glücklich und zufrieden werden kann. Es ist erstaunlich, womit man auskommt und für wieviele Dinge etwas Natur und Wildnis ein viel besserer Ausgleich ist, als so manches Großstadterlebnis.

Wen eine ausführlichere Beschreibung des canadischen Westens sowie der Lebensweise und -philosophie der Indianer der Pazifikküste interessiert, dem sei von Margaret Craven das Buch “Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen” wärmstens empfohlen.

Andreas Marschner