Promovieren in Chicago

Wo selbst Nobelpreisträger manchmal durch die Prüfung fallen

Nach Amerika wollte ich eigentlich schon immer mal, und so lag es nahe, mich im Jahr vor meinem Humboldt-Diplom für ein Fulbright-Stipendium zu bewerben. Die Bewerbung war erfolgreich, und so traf ich eine Woche nach Abgabe meiner Diplomarbeit in Minneapolis ein, um an der University of Minnesota für ein Jahr meine Ökonomie-Kenntnisse zu vertiefen.
Danach wollte ich ursprünglich in Deutschland promovieren, doch schon vor meiner Abreise hatte mir Prof. Wolfstetter prophezeit, daß ich gewiß in Amerika bleiben würde. Nach wenigen Wochen wußte ich, daß er Recht behalten würde.

Die Ausbildung zum Ph.D., dem amerikanischen Doktor, beginnt mit einem Jahr intensiven Studiums in Mikro, Makro, Ökonometrie und Mathematik. Während Doktoranden in Deutschland im wesentlichen „nur" eine Dissertation schreiben müssen, lernt man dort also erst einmal alles, was man schon immer über Volkswirtschaftslehre wissen wollte. Dies erfordert allerdings einen hohen Arbeitsaufwand: Mit ein bis zwei freien Abenden pro Woche hatte ich noch vergleichsweise viel Freizeit. Das Tempo ist atemberaubend, und da jeder Kurs in den zehnwöchigen Trimestern bis zu drei Prüfungen beinhaltet, vergeht kaum eine Woche ohne Klausur.

Dafür sind jedoch auch die Arbeitsbedingungen hinsichtlich Räumlichkeiten, Bibliothek und Computerausstattung so gut, daß im Vergleich dazu die deutschen Studienverhältnisse grausam erscheinen. Noch wichtiger: die Professoren sind (fast) jederzeit ansprechbar, haben Zeit für Studenten und bezahlen jeden Freitag das Bier auf der Happy Hour des Departments.
Und schließlich trägt die internationale Atmosphäre zur besonderen Erfahrung der amerikanischen Graduate Schools bei. Mein Jahrgang in Minnesota umfaßte 14 Ausländern aus zehn Nationen, der einzige Amerikaner gab nach einigen Monaten auf. So wurde selbst die alltägliche Arbeit in einer russisch-thailändisch-japanisch-deutschen Gruppe zu einem (multikulturellen) Erlebnis. Dies ist vielleicht das Interessanteste an einem Studium in Amerika: Weil so viele ausländische Studenten dort sind, bildet sich in der Uni eine internationale Gemeinde mit Vertretern aus allen Teilen der Erde. Echte Amerikaner sind beinahe eine Rarität.

Nach einem Jahr an der University of Minnesota bot sich mir die Gelegenheit, an die University of Chicago zu wechseln. Gemessen an den sieben aktiven Nobelpreisträgern, von Ronald Coase und Milton Friedman bis zu Gary Becker und Robert Lucas Jr., ist das Department of Economics der University of Chicago das erfolgreichste der Welt.

Chicago ist jedoch auch dafür bekannt, radikal marktwirtschaftliche Methoden auf die eigenen Studenten anzuwenden. Bis vor einiger Zeit scheiterten Jahr für Jahr etwa die Hälfte der neuen Ph.D.-Studenten am Core exam, der dreiteiligen Prüfung in Mikro, Makro und Ökonometrie nach dem ersten Studienjahr. So gerät das erste Jahr zu einem Kampf ums Überleben, der bei Studiengebühren von $22.000 für Studenten ohne Stipendium auch zu einem finanziellen Risiko werden kann. Die harte Auslese erfolgt in der Absicht, aus einer größeren Anzahl die Besten herauszulesen, anstatt von vornherein nur wenige Studenten zuzulassen und dabei womöglich Talente zu übersehen. Daß aber selbst der Core nicht viel aussagen muß, beweisen zwei Professoren in Chicago: ein heutiger Nobelpreisträger scheiterte einst selbst an dieser Prüfung, ein anderer Professor gar zweimal, so daß er Chicago verlassen mußte und sein Ph.D.-Studium in Princeton fortsetzte.

Heute beträgt die Erfolgsquote im Core immerhin knapp über 60%, doch nach wie vor ist das erste Jahr in Chicago ausgesprochen hart. Aufgrund meines Jahres in Minnesota blieben mir solche Torturen zum Glück erspart, ich konnte mit dem Core beginnen und dann direkt ins zweite Jahr einsteigen. Hat man es soweit geschafft, ist das weitere vergleichsweise angenehm. Das zweite Jahr dient zur Spezialisierung. Es gibt nur noch wenige Hausaufgaben, dafür steht das Lektürestudium im Vordergrund. Nach weiteren Fachprüfungen am Ende des zweiten Jahres, die mir in zwei Monaten bevorstehen, folgt dann schließlich der entscheidende Abschnitt: die Arbeit an der Dissertation.

Die University of Chicago ist extrem forschungsorientiert. Der englischen Königin wurde einst der Ehrendoktortitel mit der Begründung abgeschlagen, sie habe keinerlei wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen. Richtig lebhaft wird es immer dann, wenn wissenschaftliche Ergebnisse diskutiert werden. Allein im Department of Economics gibt es pro Woche über 20 Forschungsseminare. Der Vortragende kommt selten unangefochten durch seine ersten Folien. Von technischen Details bis hin zu den grundlegendsten Annahmen ist jeder Satz gnadenloser Kritik ausgesetzt. Selbst arrivierte Professoren geraten regelmäßig unter Druck, können dann aber auch die Kraft ihrer Argumente unter Beweis stellen. Allerdings gelingt es nur wenigen, in 90 Minuten bis zu den Ergebnissen ihrer Arbeit vorzudringen…

Zur Erholung vom akademischen Streß hat Chicago einiges zu bieten. Für Jazz-Fans läßt sich Chicago kaum übertreffen. Auch das sonstige Nachtleben kann sich mit Berlin messen.

Das wirklich praktische an amerikanischen Großstädten ist, daß neben der einheimischen auch noch eine Vielzahl anderer Kulturen vorhanden ist. Es gibt die obligatorische Chinatown, griechische, italienische, polnische Viertel, ganze Straßenzüge mit Schildern in kyrillischer, chinesischer oder koreanischer Schrift und eine größere indische Gemeinde. Im „Deutschen Eck" oder „Chicago Brauhaus" gibt es dann auch Deutsches, und Spezialitätenläden halten von Schauma-Shampoo, Bahlsen-Keksen, Afri-Cola (wer kennt sie noch?) bis zu Milka-Schokolade typisch heimatliche Produkte bereit.

Mit Einzelheiten über die Annehmlichkeiten und Widersprüchlichkeiten des amerikanischen Lebens ließen sich weitere Artikel füllen. Allein der kulturelle Aspekt wurde ein Jahr in den USA rechtfertigen. Nimmt man hinzu, daß die besseren amerikanischen Universitäten ihren deutschen Pendants heute in vielerlei Hinsicht weit voraus sind, wird ein Studienjahr hier fast zu einem unwiderstehlichen Angebot – ich jedenfalls kann den Schritt über den Ozean nur vorbehaltlos empfehlen.

Matthias Döpke
Der Autor studierte nach seinem Vordiplom (Fernuniversität Hagen) von 1993 bis 1995 VWL an der HU Berlin.

Informationen zum Weg nach Amerika