Hinrichtungen vor der Mensa

Der engagierte und interessierte Student fährt gerne ins Ausland um sich dort -vor Ort- über Leben und Kultur der einheimischen Bevölkerung und machmal auch der mehr oder weniger einheimischen Studentenschaft zu informieren. Aus eben diesem Grunde reiste der Autor Anfang Oktober nach Coimbra, gelegen auf halbem Wege zwischen den Kaffeehäusern Lissabons und den Weinkellern Portos.

Die Stadt scheint von ihren zahlreichen Studenten zu leben, und von ihren EU-Subventionen die allerorten von Baustellenschildern herab verkündet werden, und von ihren EU-subventionierten Erasmus-Studenten, die vor allem durch impertinente Fragen aufzufallen scheinen. Fragen wie, „beginnt der XY-Kurs nun am 21. September wie Zulassungsbüro A oder am 13. Oktober wie Institut B oder aber am 1. November wie Prüfungsamt C gesagt hat?“.

Portugiesen scheinen solche Fragen nicht zu stellen. Der Autor seinerseits war sehr froh, daß ER nicht hier war, um sich mit der Unibürokratie herumzuschlagen. Lieber schaute er atemberaubend schönen Portugiesinnen hinterher. Als er dann eine von ihnen ansprach, stellte sich heraus, daß sie belgische Erasmusstudentin und erst vorgestern eingetroffen war, kein Wort portugiesisch sprach und auf belgische Erasmusstudenten wartete, die sie tags zuvor kennen gelernt hatte. Nur soviel zu den Bemühungen des Autors, mit Landeskindern in Kontakt zu treten. Seine Sehnsuch nach Autentizität entlud sich schließlich darin, daß er eine für die Region typische handbemalte Keramikvase und eine CD mit Fado-Gesängen kaufte.

Jene belgischen Erasmusstudenten kamen später tatsächlich vorbei, was aber nicht wirklich überraschen konnte, da jeder Erasmusstudent mindestens einmal am Tag im Café Academico oder im Café Placa Republica vorbeischaut. Wie sich herausstellte, hatte der Autor sie bereits eine Woche zuvor kennen- und mögen gelernt. Zu vorgerückter Stunde war ihm dabei zuerst auf flämisch und dann noch einmal auf englisch mitgeteilt worden: Belgier hätten mit drink-one-Wodka-and-get-the-next-for-free-Sonderangeboten in portugiesischen Diskos keine Probleme, da das Bier in Belgien sehr viel stärker als etwa in Portugal oder Deutschland sei. Diese belgischen Erasmusstudenten waren auch an jenem Tag mit dem Autor in der Mensa gewesen, als es zu der Massenerschießung kam.

Mensawitze

Die Mensa bietet an 7 Tagen in der Woche bis spät in die Nacht 5 verschiedene Menüs komplett mit Dessert, Salat und Getränk für 2 Mark 80 und Frühstück von 8 bis 10 für 30 Pfennig an. Eine Tatsache, die vermutlich erheblich zur Verbesserung der Ernährung der Studentenschaft sowie zur Integration der Erasmusstudenten beiträgt. Einer jener belgischen Erasmusstudenten erzählte gerade einen Witz.

[An dieser Stelle sei endlich erwähnt, daß Erasmus gar nicht mehr Erasmus sondern jetzt irgendwie belangslos neu heißt, aber ansonsten alles beim alten geblieben ist. Eine Umbenennung, die vom Autor ausdrücklich begrüßt wird. Schließlich soll ganz Europa von der EU und ihren Förderprogrammen profitieren. Auch die Brüssler Namensbürokratie oder jene Druckerei in Kalabrien, die die EU-Informationsbroschüren herstellt.]*

Also: in der Mensa sitzend erzählte gerade einer jener belgischen Erasmus-Nachfolgeprogramm-Austauschstudenten einen Witz. Eine ältere Lady beschimpfte Churchill auf einer Wahlkampfveranstaltung: „If I were your wife, I’d put poison in your tea.“ Churchill (to gain time): „Eh?“ Lady, again, even louder:  „If I were your wife, I’d put POISON in your tea.“ Churchill: „Madame, if I were your husband I would certainly drink it.“  Eine Pointe, die etwas vom Vinio Verde zu haben scheint: gepflegte Muffigkeit im Odeur aber prickelnde Frische im Geschmack. Eine Komposition, die leider nicht die nötige Zeit hatte, um sich voll zu entfalten. Denn just in diesem Moment beschloß eine Gruppe „älterer Semester“ am Nebentisch eine alte Tradition wieder aufleben zu lassen, und einige der Studienanfänger hinzurichten. Und zwar sofort.

Schnell wurde ein gutes Dutzend willkürlich ausgewählt, und vor den Mensaeingang gezerrt. Erstaunlicherweise leistete kaum jemand Widerstand. Dabei kam den Häschern offenbar die Autorität ihrer Uniform zur Hilfe, die in Coimbra etwa jeder fünfte Student trägt. Sie besteht aus weißem Hemd und schwarzem Anzug, Weste, Krawatte, geputzten Schuhen und einem Mantel, der den Autor an die guten alten Zorro-Western erinnerte. Der Schnitt scheint aus dem vergangenen Jahrhundert zu stammen; für die Damen wurde später eine Variante mit runden Kragen und und knielangem Rock über schwarzen Strümpfen dazugetan. Die Uniform wird hitzeunabhängig stets komplett und zugeknöpft getragen und sollte geeignet sein, zu einem vermehrten Zustrom japanischer Touristen in die Stadt beizutragen.

...harte Männer

 Die Delinquenten - darunter selbstverständlich keine Frauen - mußten sich auf dem Vorplatz in einer Reihe hinknien, die Hände auf dem Rücken. Schnell bildete sich eine Traube sensationslüsterner „Komilitonen“. Man sah beste Freundinnen diskutieren, welcher der Hinzurichtenden denn die schönsten Augen hätte genauso, wie lachende Jungs die zynische Ratschläge erteilten. Es wurden durchaus auch ein paar kritische Fragen geäußert, aber schnell und bestimmend von die Traditionen würdevoll verteidigenden jungen Männern zurückgewiesen.

Dann fuhr Erstarren durch die Reihen, als drei Bewaffnete vor das erste Opfer hintraten, ein Vierter, ebenfalls schwarz Uniformierter, gab das Kommando zum Feuern und tatsächlich: sie schossen ihm direkt ins Gesicht. Und kurz darauf auch dem Zweiten und dem Nächsten...  In dem Moment, als die Schüsse den Ersten trafen, machte der Mob seiner Nervosität mit johlendem Gelächter Platz.

Den jungen Delinquenten, am ersten Tag in der Universität, war, als sie dort kniend auf die befreiende Salve warteten, zweifelsohne klar, daß der Ernst des Lebens begonnen, sie die schützende Umgebung des Elternhauses verlassen hatten. Gefaßt, mit zuckendem Mundwinkel aber festem Blick schauten sie ihren Scharfrichtern in die Augen. Sie sahen plötzlich wie richtige Männer aus.

Ihre Peiniger vom Exekutionskommando hingegen, in ihren chicen Uniformen und meist schon ein paar Jahre älter, wirkten wie kleine Jungs, lärmend und scherzend, sich an den Anfeuerungsrufen der Menge berauschend und in ihren Händen die bunten Wasserpistolen haltend.

Burkhard Slischka

* Erasmus heist nicht irgendwie belanglos anders, sondern SOKRATES, welcher als Philosoph auch einem Studenten der Wirtschaftswissenschaften bekannt sein sollte [die online-Redakteure]