Träumereien

oder die Begleiterscheinungen einer Südamerikareise

Jedes Jahr im November/Dezember, wenn Berlin wieder in ein einheitliches Grau getüncht ist, die Tage kürzer werden und die Temperaturen fallen, findet man sie wieder, die Vielzahl von bunten Werbeplakaten für die großen Diashows. Sie künden von fernen Welten, fremden Kulturen und großen Abenteuern.

Wer hat nicht schon mal darüber nachgedacht, es den Helden solcher Shows nachzumachen?! Entsprechend werden solche Veranstaltungen dann auch von Reiseunternehmen begleitet, welche für alle Zuschauer die Möglichkeit bieten, für nicht geringes Entgelt in drei oder vier Wochen auch etwas von der Abenteuerluft dieser Weltenbummler schnuppern zu können. Natürlich wird dabei der Eindruck vermittelt, daß es nur für diese prädestinierten Traveller möglich ist, sich so völlig ohne die Organisation der großen Reiseagenturen durch solch ferne Gegenden zu schlagen.

Als ich mich vor einem Jahr aufmachte, um 10 Monate durch die Länder Südamerikas zu reisen, war auch ich  voller Zweifel und Ängste. Glücklicherweise überwog bei mir damals die Neugier und natürlich auch die Lust auf ein solches Reiseabenteuer, denn diese letzten Monate gehören wohl zu den prägendsten Erfahrungen in meinem bisherigen Leben, auf welche ich nicht mehr verzichten würde.

Aber noch mal zurück in die Zeit vor und zu Beginn meines Vorhabens. Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Es war Frühjahr. Trotz Sonnenscheins verlor ich mich in einer der Statistik II-Vorlesungen. Herr Rönz schwebte irgendwo zwischen t- und F-Verteilung, als mir - meine Tagträume unterbrechend - ein Kommilitone von günstigen Sprachkursen irgendwo in Südamerika erzählte. Wer würde sich in diesem Moment noch für die graue Theorie begeistern, wenn gleichzeitig die Weite Südamerikas so greifbar nahe scheint?! Patagonien, Feuerland, Inkas oder Equador klingt ja wahrlich berauschender als Stichprobenvarianz und Tschebyscheffungleichung! Außerdem war ja mit dem Erlernen des Spanischen schon die geeignete Begründung für Eltern und Lebenslauf gefunden.

Die  Idee war geboren. Was danach folgte, waren Tage des Zweifelns und der Unentschlossenheit, ob man es sich denn wirklich leisten kann, so ohne Praktikum oder Auslandsstudium einfach mal aus dem Studienalltag einer „Elite“-Universität auszubrechen. Einige meiner Freunde können wohl heute noch ein Lied über die unzähligen Stunden dieser Entscheidung singen.
Aber irgendwann entschloß ich mich doch und das Danach lief dann alles mehr oder weniger von allein. Zur Finanzierung der Reise arbeitete ich vier Monate im Baugewerbe. Daneben blieb mir natürlich wenig Zeit, mich um die weitere Organisation meiner Tour zu kümmern.

Als ich das Flugzeug in Buenos Aires verließ, war ich denkbar unvorbereitet auf das, was hier wohl auf mich zukommen sollte. So hatte ich kaum eine Ahnung von dem, was mich an Sehenswürdigkeiten, Landschaften oder an alltäglichen Situationen erwarten würde. Zudem war mein Spanisch auf 3 Monate Anfängerkurs in der VHS begrenzt, das heißt, auf die Zahlen von 1 bis 1000 und die Fragen nach Alter, Herkunft und Befinden. Heute kann ich leicht sagen, daß diese Nichtvorbereitung das Beste ist, was man überhaupt tun kann. Aber zugegeben, damals schlackerten mir ganz schön die Knie.

Einmal angelangt verlief die Reise wie im Selbstlauf. Ein Grund dafür ist die große Anzahl an Rucksacklern aus der ganzen Welt, welche in Südamerika oft monate-, manchmal jahrelang unterwegs sind. Meist trifft man sich in den Billigherbergen, welche in den gängigen Reiseführern empfohlen werden. Diese fast täglichen Treffen nehmen aufgrund der ähnlichen Interessen und Probleme so etwas wie Familiencharakter an und gehören zu den schönsten Begleiterscheinungen einer solchen Reise. Über Internationalität braucht man nicht mehr zu reden, sie ist ganz einfach vorhanden. Man unterhält sich zwanglos natürlich über die Reiseerlebnisse, aber auch über die Situation der eigenen Länder. So hat sich meine Sicht nicht nur gegenüber Südamerika erweitert, sondern die ganze Welt scheint kleiner und faßbarer geworden zu sein. Außerdem erhält man auf diese Weise ständig Informationen über die nächsten Reiseziele, über sehenswerte Plätze, günstige Unterkünfte, Jobmöglichkeiten oder Gefahren. Als Folge dessen ist schon fast so etwas wie ein Gringopfad vom Norden bis zum Süden Lateinamerikas entstanden, auf welchen auch ich immer wieder zurückfand.

Mit dem sich durch die tägliche Anwendung ständig verbessernden Spanisch machte ich auch mehr und mehr die Bekanntschaft den Einheimischen. Diese reichten von den üblichen kurzen Gesprächen mit den Straßenhändlern bis zu echten Freundschaften. Mit diesen Bekanntschaften, als auch mit dem Besuch der Sehenswürdigkeiten begann ich, mich mehr und mehr für die Geschichte als auch für die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation der verschiedenen Staaten zu interessieren, las Zeitung und besuchte Museen. Alles in allem wurde so aus meinem Trip eines meiner intensivsten Studienjahre. Ich lernte nicht nur Spanisch, sondern bereicherte täglich mein Wissen über die besuchten Länder, als auch über die Herkunftsgebiete meiner Reisegefährten. Jeder Tag war damit geprägt von Neuigkeiten und Höhepunkten.

Heute kann ich gut nachvollziehen, daß viele Globetrotter von der Droge „Reisen“ nicht mehr lassen können. Eines der härtesten Probleme für mich seit meiner Rückkehr besteht im Wiedereinfügen in die Zwänge des Alltags. Und wenn uns Herr Burda mit glänzenden Augen von Periodogrammen und Spektralanalyse erzählt, so ertappe ich mich doch des öfteren dabei, von der Fortsetzung dieses Artikels zu träumen.

Andreas Stiehler