Angela oder die kolumbianische Landkultur

Es war ein Dienstag Ende Juli, als mein Flugzeug früh gegen 9.00 Uhr nahe Medellin landete.
Mit dem Ziel, einen kleinen Eindruck von der kolumbianischen Landkultur zu gewinnen, fuhr ich weiter in das Provinzstädtchen Rionegro, welches Handels- und Administrationszentrum der umliegenden Bergdörfer ist.
Einmal angekommen begab ich mich mit meinem Reiseführer, die Bibel der Rucksackreisenden, auf Quartiersuche. Mit geübtem Blick durchsuchte ich die mit Informationen vollgestopften Seiten und stieß unter der Kategorie "Billigsthotels" auf "Residencias Onassis". In Marktnähe gelegen und in meinem "Buch der Bücher" mit "good value, recommended" beschrieben, schien es der ideale Ausgangspunkt für einen Landausflug zu werden. Folglich begab ich mich auf die Suche.

Das bunte Treiben kündigte mein Ziel schon nach einigen Minuten Fußweg an. Auf alten LKW, kleinen Pritschenwagen, Pferdekutschen und in bunten Landbussen strömten die Bauern dem Marktzentrum zu, beladen mit Getreide, Kartoffeln und Haustieren aller Art. Auf der anderen Seite wurden sie von den Inhabern der großen "Tiendas" mit Werkzeugen, Baustoffen, Konserven und Spirituosen empfangen. Die dampfenden Kochtöpfe der Straßenhändler luden zur Stärkung und die großen Casinos zum Feiern nach vollzogenem Handel ein. Nach kurzem Suchen fand ich direkt neben dem Marktgelände an einem Haus das Schildchen "Onassis".
Zwei gut genährte Frauen mit engen Kleidern und starker Schminke wiesen mir am Eingang den Weg. Ich sann noch ein wenig über Unterschiede in Kleidung und Schmuck im Vielkulturenstaat Kolumbien nach. Schließlich kam ich soeben aus dem 800 km entfernten Cali, wo sich die Menschen in Ihrem Äußeren doch deutlich von dem der zwei Damen unterschieden. Doch schon wurde ich wieder aus meinen Gedanken gerissen; als sich vor mir ein kleines Kontrollfensterchen öffnete. "Man traut halt nicht jedem Fremden" dachte ich noch, als mich eine ältere Patrona im Morgenrock empfing. Nun doch etwas mißtrauisch geworden, fragte ich, ob es sich hier wirklich um das in meinem Reiseführer empfohlene preiswerte Hotel handelte handele. "Si, si, tenemos ambiente familiar" lachten mich meine zwei Begleiterinnen an. Etwas unsicher zahlte ich, nahm die Schlüssel entgegen und wurde von von einem kleinen, mageren Mädchen mit mitleidigem Blick zu meinem Zimmer geführt. Der Reiseführer hatte nicht gelogen. Ich bekam ein Zimmer mit eigenem Bad und sauberen Bettbezügen, war zufrieden und begab mich zurück zum Foyer. Hier setzte ich mich vor den Fernseher, um nach den Strapazen der Reise noch etwas zu entspannen. Hinter meinem Rücken begann inzwischen ein reger Geschäftsbetrieb.
Die lustigen Eingangsdamen tauchten nun in Begleitung zweier angetrunkener Landarbeiter wieder auf und verschwanden in einem der zahlreichen Zimmer der Parterre. Andere Räume öffneten sich, woraus zuerst schwankende Männer dem Ausgang zustrebten, gefolgt von anderen jungen Damen. Diese schielten scheinbar belustigt zu mir herüber, unterhielten sich kurz mit der "Morgenrockpatrona" und begaben sich ebenfalls wieder auf die Straße.

Wie Schuppen fiel es mir von den Augen und die Farbe schwand aus dem Gesicht (Du warst wirklich sehr schockiert?!?). Ich bin tatsächlich in einem ...
Jetzt galt's: "Courage zeigen, bist du einmal in die Tiefen der kolumbianischen Landkultur vorgedrungen, so gilt es jetzt, diese zu studieren." Ich begab mich also zu den Wurzeln, sozusagen zum Ausgangspunkt zurück, nahm Stift und Schreibpapier zur Hand und setzte mich in die nahe Kneipe, mit dem festen Vorsatz, live und ungekürzt alles Erlebte sofort schriftlich an meine Berliner Kommilitonen weiterzugeben.
Ich plazierte mich in einer hinteren Ecke des großen Salons, bestellte ein Bier und hatte nun Gelegenheit, Ambiente und Gäste näher zu betrachten.

Ausgemachte Fans und Kenner von"John Wayne Filmen", können meiner Beschreibung sicher gut folgen: Neben der Flügeltür befand sich ein langer Tresen, hinter welchem der untersetzte Wirt mürrisch nach den mit angetrunkenen Landarbeitern vollbesetzten Tische schaute. Aus dem Lautsprecher drangen mexikanische Schnulzen herüber. Am Tisch vor mir spielten drei in naßdampfende große Ponchos gehüllte Männer Karten. Den Hut tief in die Stirn gezogen, schien sie der Rest des Lokals nichts anzugehen. Von Zeit zu Zeit kam der Wirt mit ein paar Schnäpsen vorbei, den sie dann ohne großes Prosit hinter die Binde gossen. Die "Mitarbeiterinnen" meines Hotels hatten an der Bar Posten bezogen. Sie nickten mir kurz freundlich zu, um sich sogleich weiter ihrer Kundschaft zu widmen. Scheinbar gab es noch mehrere solcher "Residencias" in der Nähe, denn eine ganze Anzahl dieser Mädchen sah ich nun zwischen den Tischen der betrunkenen Männerschar umherwandern, um hier und da mal einen Schnaps mitzutrinken und kurze Zeit später mit einem der Verehrer ins Freie zu verschwinden.

Schreibend saß ich in meiner Ecke und blieb vorerst ziemlich unbeachtet. Das heißt, mich trafen schon ein paar fragenden Blicke, was dies wohl für ein exotischer Fremder sei.
Irgendwann stand dann doch (das hört sich so an, als ob Du darauf gewartet hättest) ein Mädchen neben meinem Stuhl. Während ich scheinbar nachdenklich auf mein Geschriebenes starrte, wartete sie geduldig bis ich endlich aufschaute und fragte sodann, was ich denn schreibe und ob ich denn nicht Lust hätte...
Ich erzählte ihr von meiner Reise, meinen Freunden und schließlich davon, daß sie schon sehr schön, jedoch meine Reisekasse fast leer sei. Sie schien das nicht abzuhalten, nannte mich einen "pobrecito" (armer Junge), wobei sie sich, mir weiter über das Haar streichelnd, neben mich setzte, mir von Ihrem Zuhause, von Eltern und Geschwistern erzählte und anschließend alles über das Land namens Deutschland im fernen Europa wissen wollte.

Ihr Name war Angela. Mit ihren großen unschuldigen Augen sah sie auf meinen angefangenen Brief, wollte nun jeden Satz deutsch vorgelesen und anschließend übersetzt bekommen. Schließlich ergänzte sie ihn noch mit eigenen Kommentaren. Ihre Freude darüber äußerte sich darin, daß sie mir von Zeit zu Zeit über den Kopf strich und einen kleine Schmatz auf die Wange gab, was mir zwar etwas peinlich, jedoch zugegebenerweise nicht unangenehm war.
Scheinbar lockte unsere Unterhaltung nun auch einige andere Mädchen an, die sich nun während ihrer "Pausen" an meinem Tisch entspannten und mich ebenfalls mit Fragen überhäuften. Angela wachte dabei peinlich genau darüber, daß sie mir nicht zu nahe kamen. Eine gute Idee, schien doch mein schütteres Haar mittlerweile nicht nur von ihr begehrt zu sein.
Angelas Zuneigung schien mit fortschreitendem Abend noch zu wachsen. Zu später Stunde machte sie mir noch ein letztes Angebot, sozusagen entgeltfrei. Ich druckste und kämpfte innerlich. Ich weiß nicht, was passiert wäre, hätte nicht der Wirt das Lokal geschlossen, während sie gerade dienstlich unterwegs war. Nachdem ich mich noch einige Minuten vor dem Fernseher des Hotels über die kuriosen Ereignisse des Tages nachsann, bat mich die Patrona mit einem keine Widerrede duldenden Klang ihrer Stimme nun endlich mein Zimmer aufzusuchen: "Die Mädchen brauchen ihre Ruhe", Ordnung muß ja schließlich sein, auch in solch fröhlichem Haus.

Als ich mich am nächsten Tag zur Abreise aufmachte, wurde ich von meinen Mitbewohnerinnen mit herzlichen Wünschen verabschiedet. "Empfehlen Sie uns weiter", gab mir die Patrona mit auf den Weg, was ich mit dieser kleinen Geschichte jetzt auch tat.
Dem Reiseführer habe ich außerdem mein Hotel mit "highly recommended" weiterempfohlen, auf das Angela bald wieder einen Freund aus der großen weiten Welt kennenlernt.

AS