„Für Demokratie und Wohlstand“

Die tiefgreifenden Umwälzungen in Südostasien werden noch lange nicht abgeschlossen sein. Besonders in Indonesien brechen sie immer wieder in Form von blutigen Auseinandersetzungen an die Oberfläche. Die Bilder, die uns erreichen sind schaurig. Die gerühmten asiatischen Tiger sind erlegt. Seitdem die internationalen Geldgeber massiv ihr Kapital aus der Region abgezogen haben, ist alles anders. Statt wachsendem Wohlstand müssen nun immer mehr Menschen wieder um das nackte Überleben kämpfen. Auch in der internationalen Wirtschaftspolitik wird umgedacht. Es zeichnet sich ein zunehmender Konsens ab, den gewaltigen Finanzströmen, die täglich von Computer zu Computer gejagt werden, ein wenig Einhalt zu gebieten.

Und doch wurde bis vor kurzem abseits der Öffentlichkeit an einem Vertragswerk gearbeitet, das einem Sprengstoffanschlag auf jegliche Bemühungen gleichkommt, Katastrophen wie in Südkorea und Indonesien zu verhindern.

...seit Wochen nehmen die Spannungen zwischen der Betriebsführung, der Belegschaft und den Autoritäten zu. Das durchweg ausländische Management zeigt sich nicht bereit, auf die Klagen der lokalen Bevölkerung und der Arbeitnehmer zu reagieren. Diese beunruhigen sich zunehmend über die sich häufenden Fälle von Hautausschlag, Kopfschmerzen und Übelkeit, die mit der durch die Produktionsweise hervorgerufenen Umweltbelastung in Verbindung gebracht werden. Nun droht ein Streik, doch die Autoritäten sind bereit, mit aller Härte gegen die Bevölkerung vorzugehen. Sonst droht nicht nur, daß die Fabrik, die einem transnationalem Konzern gehört, an einen anderen Ort zieht, sondern auch eine Klage seitens des Konzerns in mehrstelliger Millionenhöhe wegen der entstandenen Verluste... So stellen sich die Gegner eines internationalen Abkommens, des Multilateral Agreement on Investment (MAI), ein „worst case scenario“ vor, sollte das MAI in internationales Recht umgesetzt werden. Die Verhandlungen darüber finden seit Mai 1995 in der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) statt. Vorgesehen ist ein internationaler Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten, dessen Anliegen ein „umfassender multilateraler Rahmen für Investitionen mit hohen Standards zugunsten der Liberalisierung und dem Schutz von Investitionen“ sei, wie auf der MAI-Homepage der OECD nachzulesen ist. Hinter dieser Verschlüsselung steht ein Katalog von Rechten für Investoren, die meist in der Gestalt von transnationalen Konzernen auftreten, und Verpflichtungen für Staaten ihnen gegenüber. Nach Abschluß soll der Betritt auch Nicht-Mitgliedern offenstehen. Aus derselben Quelle läßt sich ersehen, daß das Abkommen darauf zielt, „Barrieren und Verzerrungen von Investitionsströmen zu beseitigen, eine effizientere Verteilung der Ressourcen zu fördern und dadurch Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen zu schaffen.“

Eine „Bill of Rights“ für die Konzerne, empören sich die Kritiker, unter der vor allem die Entwicklungs- und Schwellenländer leiden würden. Ihnen sollen die Möglichkeiten genommen werden, Bedingungen zu stellen, zu denen Investitionen getätigt werden können. Aus dem Grund seien die anfänglichen Verhandlungen aus der Welthandelsorganisation (WHO), wo auch die ärmeren Länder noch ein gehöriges Wort mitreden können, in die OECD verlagert worden, wo die reichsten Staaten unter sich sind.

Doch die Auswirkungen wären für alle Beteiligten weitreichend, würden tiefe Einschnitte in die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf internationaler wie auf lokaler Ebene bedeuten. Die Gerüchte riefen eine Gemeinschaft auf den Plan, die sich zu einer Koalition von Gewerkschaften, Umweltschutzgruppen und zahlreichen anderen Nicht-Regierungsorganisationen (NROs) und über das Internet auch international zusammenfand. Unter großen Anstrengungen gelang es ihnen, stückweise Inhalte des MAI an die Oberfläche und die Öffentlichkeit zu bringen, über die nicht einmal die jeweiligen Nationalvertretungen in Kenntnis gesetzt waren. Abseits jeglicher demokratischer Legitimation wurde nahezu in Geheimverhandlungen an einem Abkommen gearbeitet, dessen Reichweite über die des Internationalen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) weit hinausgehen würde. Das MAI würde als internationaler Vertrag über nationalem Recht stehen und seine Provisionen einen ungeheuren Eingriff in der nationale Souveränität bedeuten. Unter anderem sieht das MAI vor, daß die Teilnehmerländer ihre Wirtschaft in allen Bereichen auch ausländischen Investoren öffnen. Sie müssen untereinander und auch gegenüber den Inländern gleichgestellt werden. Maßnahmen zur Entwicklung einer lokalen Wirtschaft werden dort ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeiten, durch wirtschaftliche Sanktionen Druck auf menschenrechtsverletzende Regimes auszuüben. Auflagen an Investoren wie der Transfer von Know-How, die Verpflichtungen zur Reinvestition von Gewinnen, zur Schaffung von Arbeitsplätzen für die lokale Bevölkerung oder zum Schutz der Umwelt wären vertragswidrig. Im Falle von Enteignungen steht den Geschädigten volle Entschädigung zu. Unter diese „Enteignungen“ fallen allerdings auch entgangene Gewinne, z. B. aufgrund von Umwelt- oder Arbeitsgesetzen, aber auch Streiks. Weiterhin soll das MAI den unbeschränkten Abzug und Zufluß aller Formen von Kapital über alle Grenzen hinweg rechtlich festsetzen.

Gerade die zuletzt genannte Komponente birgt ein ungeheures Potential an Katastrophen wie der Zusammenbruch der Wirtschaft und Gesellschaft in Südostasien und die Pesokrise in Mexiko eindrucksvoll gezeigt haben. Doch auch die Möglichkeit eines Konzerns, einen Staat auf die Entschädigung entgangener Gewinne zu verklagen, führt zu absurden Situationen. In einem berühmten und häufig zitierten Fall hatte die amerikanische Ethyl Corporation unter NAFTA, das dem MAI ähnliche, aber weniger weitreichende Provisionen vorsieht, die kanadische Regierung auf $250 Millionen verklagt. Kanada hatte ein umweltschädliches Produkt der Ethyl verboten. Im Prozeßverlauf wurde unter anderem die Debatte im kanadischen Parlament über das Verbot als Enteignung klassifiziert wegen der darauffolgenden Rufschädigung. Unter MAI würde allein die Androhung solcher Klagen ausreichen, um vor allem in ärmeren Ländern eine das öffentliche Interesse schützende Gesetzgebung durchzusetzen. Denn zu oft steht der Erfüllung wirtschaftlicher Einzelinteressen das Allgemeinwohl im Wege.

Wie Hohn muß es in den Ohren der Südkoreaner und Indonesen klingen, werden mit der Liberalisierung der internationalen Finanzströme Arbeitsplätze und Wohlstand versprochen. Wie Hohn auch gegenüber den Arbeitslosen, die ohnmächtig ansehen müssen, wie ihre Arbeit in Billiglohnländern erledigt wird, in denen Sozial- und Umweltstandards kaum existieren. Die Investoren dürfen auf der Suche nach den “besten” Produktionsbedingungen, der besten Rendite ihr Kapital bequem hin- und herverschieben. Damit wird vielleicht die Wirtschaft effizient gestaltet, doch der Nutzen für das Allgemeinwohl ist nicht absehbar. Der versprochene Wohlstand durch Liberalisierung und Deregulierung bleibt eine Worthülse insofern, als daß die „neoklassische“ Wirtschaftpolitik der letzten zwei Jahrzehnte hauptsächlich einer winzigen Gruppe von ohnehin schon Privilegierten zu noch mehr Reichtum verholfen hat.

Und wenn die Führer der westlichen Hemisphäre durch die Welt tingeln und die Öffnung der Märkte empfehlen, damit die Demokratie ihren Einzug erhalten mag, geschieht dies meist bloß auf der dreisten Suche nach neuen Absatz- und Investitionsmärkten. Das MAI steht für den Höhepunkt einer Entwicklung, in derem Verlauf Entscheidungsgewalt demokratisch legitimierter Institutionen dem Rechnungswesen international tätiger Konzerne übertragen wird. Die Öffentlichkeit wird der Mittel zur Gestaltung ihrer eigenen Umwelt entmächtigt. Das ist das Gegenteil von Demokratie.

In einem Rundfunkvortrag für den NDR legte Karl Popper seine Grundthese zur Wirtschaftslehre einmal folgendermaßen dar. Die Wissenschaften würden auf der Suche nach Erkenntnissen immer von einem Problem ausgehen, zu dem sie über die Methode von Versuch und Irrtum eine Lösung suchten, d.h. „...versuchsweise Lösungen unseres Problems aufzustellen und dann die falschen Lösungen als irrtümlich zu eliminieren. Es ist auch das Verfahren, das ein niederer Organismus und sogar die einzellige Amöbe verwendet.“

Auf der Suche nach einer Lösung für die dringlichsten Menschheitsprobleme im ausgehenden 20. Jahrhundert – wie wir den weitaus größten Teil der Weltbevölkerung aus seiner bedrückenden Armut heraushelfen – haben die wesentlichen Entscheidungsträger mit Hilfe neoklassischer Wirtschaftsmodelle beantworten wollen. Diese Sichtweise konnte sich von den USA ausgehend durchsetzen, wo man die Erfolge besichtigen konnte. Eine beständig sinkende Einkaufskraft des Durchschnittseinkommens und das Aufklaffen der Einkommensschere, wie es man sonst nur aus Bananenrepubliken in der Karibik oder in Afrika kennt. Da dieser Erfolg auch international durchgesetzt werden sollte, kam es zu Ereignissen wie NAFTA, GATT etc. Die Krönung vielleicht sollte das MAI sein.

Doch dazu kommt es wohl noch nicht. Denn MAI ist gescheitert. Nicht unbedingt, weil man die Welt vor ihm bewahren wollte, sondern weil sich vor allem die USA und die EU-Staaten mit den Forderungen nach dem Schutz ihrer Sonderinteressen nicht durchsetzen konnten. Die US-Vertreter meinten, die universell gültigen Regeln der Liberalisierung ließen sich nicht auf Kuba, Lybien und den Iran anwenden. Und die europäischen Staaten sahen sich durch ihre Euro-Zone ohnehin schon an den Rand einer wirtschaftlich und sozial machbaren Liberalisierung gedrängt. Frankreich zog sich schließlich von den Verhandlungen zurück. Ob die gegenwärtige Regierung den Ausschlag gegeben hat oder die Abneigung die heimische Filmkultur Hollywood auszusetzen, sei dahin gestellt. Vorläufig können wir aufatmen, auch wenn vorgesehen ist, Verhandlungen ihn anderer Form wieder in der WHO aufzunehmen.

Doch vielleicht ist es auch ein guter Zeitpunkt für die Vertreter der vorherrschenden Lehre der Neoklassik aus der Höhe ihres Elfenbeinturms in die Niederungen der Realität hinabzusteigen, um sich die Auswirkungen ihrer tollen Modelle und Formeln zu betrachten. Vielleicht sollten sie einmal umdenken, wollen sie nicht mehr als Handlanger der Reichen gelten. Die Entwicklungen der letzten Jahre belegen wirklich hinreichend den Bankrott des Mythos’, daß radikale Liberalisierung und Deregulierung zu allgemeinem Wohlstand führen.

(DS)