Erklärungsnotstand

Warum bist Du ausgerechnet nach Berlin gegangen? Kennt Ihr diese Frage? Ich höre sie regelmäßig, genauso, wie ich regelmäßig daran scheitere, sie zu beantworten.

"Naja, ich wollte halt nicht in den Westen, und genausowenig in einer richtig ostdeutschen Stadt studieren" "Mmmmh, aber Du bist doch fast immer in den Ostbezirken unterwegs und Deine Freunde sind auch fast ausschließlich von dort!" "Richtig, aber die Ostbezirke sind doch gar nicht so richtig Osten und die Freunde.....ach komm, lassen wir's." Ich hab keine Lust mehr, meine Berlin-Leidenschaft auf die leidige Ost-West Diskussion herunterzubrechen. Klar, irgendwie hat es schon damit zu tun, aber vielleicht gerade deshalb, weil ich diese Kategorisierung satt habe und mich genausowenig an ost- wie an westdeutschen Stammtischen wohlfühle.

Es gibt noch andere Phänomene. Bin ich außerhalb Berlins unterwegs, schwärme ich von meiner Stadt und bekomme ich Besuch von außerhalb, schicke ich ihn am liebsten nach Potsdam. Berlin ist keine Sightseeingmetropole, in die man sich im ersten Moment verlieben kann. Mein letzter Besuch wollte sich nicht nach einer Brandenburgischen Stadt verfrachten lassen und unbedingt die neue Hauptstadt kennenlernen. Innerhalb eines Tages besuchten wir Kudamm, Potsdamer Platz, Fernsehturm, Pergamonmuseum, Deutsches Theater, Prenz'lberg und die Oranienburger. Das richtige Glücksgefühl wollte sich weder bei Ihnen, noch bei mir einstellen. "Ist alles ganz schön groß hier, und die Anfahrtswege so lang, und die Atmosphäre so anonym und die Menschen so unfreundlich...... Da war er wieder, mein Erklärungsnotstand.

Berlin ist eben ein Gefühl. Ist man gut drauf, geht's einem in Berlin noch besser. Ist man schlecht drauf, kann man hier so richtig in Tristess versinken. Ich finde beides schön. Und die Menschen? Den richtigen Berliner findet man ja nur noch selten. Die meisten sind zugewandert, genau wie ich. Eine echte Berliner Schnauze habe ich das letzte Mal vor drei Jahren gehört, als ein Punk am Bahnhof fragte, "Haste 'ne Mark?" und eine vorbeikommende Frau erwiderte "Hab nur Hundert, kannste wechseln?"

Das war's dann aber auch schon. Und die unfreundlichen Kellner, Nachtbusfahrer und Verkäuferinnen?

Ok, ein bischen mehr Charme wäre schon schön, aber wenigstens sind sie ehrlich.

Und die Anonymität? Ich find 's gar nicht schlecht, in diese abtauchen zu können, wenn man darin abtauchen will. Und wenn man Bekanntschaften sucht, so findet man sie auch. Gerade so wird Berlin zum Abenteuer.

Bei dem Versuch Tangotanzen zu erlernen stieß ich auf eine riesige Tangogemeinde. Mir kam es vor, als wenn in der Stadt das Tangofieber ausgebrochen wäre und mit einem mal die verschiedensten Bars, ob in Charlottenburg, Mitte oder Friedrichshain, zum Tangotanzen einluden. Ein langjähriger Tänzer erklärte mir darauf, daß dies schon immer so war, man es bloß als Außenstehender nicht wahrnimmt. Und so gibt es noch tausende andere Szenen, man muß einfach nur eintauchen und befindet sich ganz schnell in einer ganz neuen Umgebung.

Fünf Jahre lebe ich jetzt hier. Das Studium neigt sich dem Ende und ich fühle mich, als habe ich gerade angefangen, diese Stadt kennenzulernen. Schon wäge ich die möglichen Vorteile des Weggehens mit meinem Verlangen ab, weiter in dieser Stadt leben zu können. Als Wirtschaftler hat man ja gelernt, dies, völlig unromantisch, in Form von Preisunterschieden zu vollziehen. Wieviel Geld müßte man mir bieten, um Berlin zu verlassen und in Frankfurt oder Leipzig eine Arbeit zu suchen? Es wäre nicht zu wenig. Gestern diskutierte ich mit einem Bekannten darüber, der erwiderte, "daß sich mit dem Studienende ja auch der Freundeskreis auflösen würde und die Vorteile von Berlin in jeder anderen Stadt auch zu finden sind" "Ja, aber.....!" Da war er wieder, mein Erklärungsnotstand.

A.S.