Dr. Manfred Gentz
Die Bewältigung nationalsozialistischen Unrechts durch die deutsche Wirtschaft

Gebannt wartet die deutsche Wirtschaft auf die Abweisung der Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter der deutschen Wirtschaft in den USA. Denn dann, endlich, könnten die Zahlungen aus dem Stiftungsfond fließen, so erklärte es Dr. Manfred Gentz, Verhandlungsführer der deutschen Wirtschaft und Vorstandsmitglied der Daimler-Chrysler AG in einer Festrede anlässlich der Vorstandssitzung der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft an der Humboldt-Universität am 23. November 2000 in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. In seiner Rede machte Gentz die Ziele deutlich, die die deutsche Wirtschaft mit ihrer Beteiligung an der Stiftungsinitiative verfolgt. Dazu zählen die „Verstrickung“ der deutschen Wirtschaft in das nationalsozialistische System anzuerkennen, moralische Verantwortung sichtbar zu übernehmen, Zahlungen zu leisten, vorrangig an die besonders schwer Betroffenen, Festigung und Wiederherstellung des Ansehens der deutschen Wirtschaft, Herstellung von Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen gegenüber künftigen Klagen, Schaffung eines Zukunftsfond der die Wiederholung nationalsozialistischer Untaten in Deutschland und anderswo verhindern helfen soll.

In den USA sind derzeit noch Sammelklagen anhängig, die für die deutsche Wirtschaft ein unkalkulierbares Risiko darstellten, sagte Gentz. Der Ausgang eventueller Verfahren ist offen und zwingt die deutsche Wirtschaft, eine Lösung zu finden, die deutsche Unternehmen in Zukunft vor juristischen Auseinandersetzungen bewahrt. Aus deutscher Sicht sei jedoch eine juristische Verantwortung der deutschen Wirtschaft keineswegs gegeben. Im Gegenteil. Mehrmals betonte Gentz, dass das Engagement der deutschen Wirtschaft nicht mit einem Schuldanerkenntnis verbunden sei, sondern die Zahlungen nur erfolgen aufgrund einer moralischen Verpflichtung.

Zunächst verwies das Vorstandsmitglied auf die besonderen historischen Umstände, die bis heute nachwirkten, etwa das Primat der USA in der Tagespolitik nicht nur in der Nachkriegszeit. Auch in den jüngsten Verhandlungen hätten die USA versucht, die Verhandlungspartner zu „gängeln“, was Gentz zu der Überlegung veranlasste, inwieweit die USA überhaupt bereit seien, die Souveränität anderer Staaten zu respektieren. Er verwies zudem auf die Anstrengungen der BRD zur Wiedergutmachung, die, so räumte er ein, stets auch unter Verweis auf den fehlenden Abschluss eines Friedensvertrages nie endgültig waren. Dennoch, so strich Gentz heraus, alle Parlamente der BRD hätten die Pflicht zur Wiedergutmachung und Entschädigung anerkannt. Als Maßstab für die moralische Bewertung dieser Haltung wählte Gentz die DDR, die, so betonte der Festredner wiederholt, niemals zu Entschädigungsleistungen bereit gewesen sei. Schließlich verwies das Vorstandsmitglied auch darauf, dass die jetzige Unternehmer- und Managergeneration zunächst reinen Gewissens jede Verstrickung in Zwangsarbeit abgewiesen habe, denn ihre Vorgänger hätten dieses Wissen nicht an die Jüngeren weitergegeben.

Die Lösung, der zufolge die deutsche Wirtschaft fünf Mrd. DM als Entschädigungsleistung aufbringt bezeichnete Gentz als ausreichend und freute sich darüber, dass es der deutschen Seite gelungen sei, ihre Vorstellungen einer Entschädigung durchgesetzt zu haben, bei der sich die Zahlungshöhe u.a. nach den gegenwärtigen Lebensumständen richtet. Demnach erhalten etwa Opfer in Osteuropa weniger Geld als ihre Leidensgenossen aus westlichen Ländern, weil das Preisniveau im Osten wesentlich niedriger ist. Nachdem die Höhe der Entschädigungssumme festgestanden habe, sei es unter den Opfergruppen zu starken Auseinandersetzungen gekommen, hatte Gentz beobachtet: „Da gibt es keine Solidarität unter den Opfern!“, stellte er fest.

Die Bilanz seiner Tätigkeit sieht Gentz durchgehend positiv. Die Ziele der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft seien weitgehend erreicht, verbleibende Unzufriedenheit insbesondere auf der Seite der osteuropäischen Staaten erkläre sich aus der Unvereinbarkeit von deren Forderungen mit den Zielen der Stiftung. Das Ansehen der deutschen Wirtschaft sei gesichert, obgleich noch einige Firmen zu Zahlungen überredet werden müssten. „Einzahlungen in den Fond bedeuten kein Schuldanerkenntnis“, warb Gentz abschließend noch einmal um Geld.

Eine Gegenrede

Der Sprecher der deutschen Wirtschaft bei den Verhandlungen zur Regelung der Zwangsarbeiterentschädigung versucht den Eindruck zu erwecken, die deutsche Wirtschaft habe es geschafft, die Beteiligung am nationalsozialistischen Unrecht zu bewältigen. Er glaubt, die Ehre sei wiederhergestellt und Deutschland könne sich einreihen in die Riege der ganz normalen Demokratien. Das zentrale Argument, die deutsche Wirtschaft sei im juristischen Sinne ohne Schuld, ist es jedoch, was diesen Versuch bereits im Ansatz scheitern lässt. Es zeigt, dass die Vergangenheit keineswegs bewältigt sondern immer noch gegenwärtig ist, und das Festhalten an dieser These wird auch in der Zukunft dafür sorgen, dass Wunden nicht heilen können. Letztlich erringt die deutsche Wirtschaft einen Scheinsieg, an dem noch einige Generationen nach Gentz und Co. werden leiden müssen.

Doch der Reihe nach. Gentz‘ Betrachtungen verfolgen zwei Ziele. Erstens die Relativierung der Schuld, also die Feststellung einer „moralischen Verantwortung“ statt einer Verpflichtung im juristischen Sinne. Das ist die wesentliche Manipulation die die deutsche Regierung und die deutsche Wirtschaft durchzusetzen hatten. Der mögliche Einwand, aus pragmatischen Gründen sei die Unterscheidung unwichtig, da es ja letztendlich um die Umsetzung einer Entschädigung wie auch immer geht, kann hier nicht greifen, denn die Wirkung dieser Umdeutung von Schuld in Verantwortung stellt die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf, wie noch zu sehen sein wird. Zweitens verfolgt Gentz das Ziel, die aufgrund der moralischen Verantwortung bestehenden Ansprüche zu relativieren und kleinzureden. Als Mittel dient ihm dazu eine selektive Geschichtsbetrachtung, also Geschichtsverfälschung. Befassen wir uns zunächst mit dem zweiten Aspekt. Gentz stellt fest, die Bundesrepublik Deutschland habe von Anfang ihres Bestehens an, Wiedergutmachung und Entschädigungen geleistet. Als Grundlage dienten die Verfügungen der US-amerikanischen Besatzungsmacht. Des weiteren hätten sich auch alle Parlamente in diesem Sinne verpflichtet gefühlt. Etwa gab es Entschädigungen für Lagerhaft, die Gentz gleichzeitig als Entschädigung für eventuell zu leistende Zwangsarbeit verstanden haben wollte. Soweit die Tatsachen. Gentz genügt das jedoch nicht, er möchte dies auch noch ordentlich gewürdigt sehen, indem er auf die Rolle der DDR verweist, die ja zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen sei, Entschädigungen an Israel zu zahlen. Auch das ist eine Tatsache, die nicht gerechtfertigt werden kann. Dennoch muss dieser Versuch, der moralischen Erhöhung der BRD durch den Verweis auf die DDR scheitern, da es nun nicht mehr möglich ist, das Problem als ein westdeutsches zu behandeln, sondern als ein gesamtdeutsches, was es ja in der Tat auch ist. Da es aber so ist, genügt es nun ebenfalls nicht mehr, die Geschichte der DDR im übrigen unberücksichtigt zu lassen. Denn im gleichen und wahrscheinlich noch größerem Maße, wie für die BRD die Verfügungen der USA zur Grundlage für Entschädigungen wurden, bestimmte auch die Sowjetunion das Handeln der DDR in dieser Frage. Dass die UdSSR weder zu Stalins Zeiten noch jemals später ein Freund Israels war, müsste selbst Dr. Gentz geläufig sein. Das heißt, dass selbst wenn die DDR willig gewesen wäre zu zahlen, sie es gar nicht hätte können. Denn so war der Kalte Krieg. Diese einfachen Zusammenhänge zu verschweigen, bedeutet also den Versuch, Geschichte zu instrumentalisieren und die Motive dafür können keine lauteren sein. Gentz hat den Vergleich zur DDR dreimal bemüht, deshalb seien noch zwei weitere Anmerkungen gestattet. Die erste Betrifft das Selbstverständnis der beiden deutschen Staaten, die andere die sonstigen Entschädigungsleistungen. Es ist bekannt, dass die BRD bis zuletzt zumindest formalrechtlich den Anspruch erhob, alleinige Vertreterin des deutschen Volkes zu sein. Deshalb nimmt es wunder, dass Gentz überhaupt erwartet, dass ein anderer Staat Zahlungen leistet für Unrecht, das Deutsche begangen haben. Mehr noch, die BRD betrachtet sich im Gegensatz zur DDR als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches. Damit hat sie selbstredend nicht nur das Vermögen, sondern auch die Schuld mit übernommen. Die zweite Anmerkung steht mit dem letztgenannten im direkten Zusammenhang. Denn obgleich es wahr ist, dass die DDR keine Zahlungen an Israel geleistet hat, so hat sie doch die Verfolgten des Naziregimes bedacht. Möglich, dass dies auch nur unter politischen Vorbehalten geschah, aber das war leider im Kalten Krieg auch in Westdeutschland üblich. Und obwohl die Diskussion um die Entschädigung der Opfer immer wieder neu entbrannte, dabei immer wieder die Finanzierbarkeit im Mittelpunkt stand, hat es im umgekehrten Falle, also bei der Bezahlung der Täter nie solche Wellen gegeben. Im Gegenteil, selbst in den neunziger Jahre, nach dem Fall der Mauer hat die Bundesregierung mit der Auszahlung von Renten an die Hilfstruppen der SS im Baltikum begonnen. Anstandslos und ohne Diskussion. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Entschädigung der Täter in den eigenen Reihen weder für den Staat BRD noch für die deutsche Wirtschaft jemals ein Problem gewesen war. Deren Versorgung war gesichert, die vielen bekannten Skandale personeller Kontinuität von der Naziherrschaft zur BRD haben das gezeigt. Wenn also die fehlende Bereitschaft der DDR zur Entschädigung der Zwangsarbeiter und Israels gewogen wird gegen die Zahlungen der BRD, dann muss aus Gründen der historischen Genauigkeit auch erwähnt werden, dass im Gegensatz zur BRD den Tätern von der DDR nicht ein Pfennig zugeflossen ist.

Wenn diese Sicht der Welt schon andeutet, auf welchen geistigen Bahnen sich die deutsche Wirtschaft bewegt, so wird das anhand der zentralen Manipulation, dass heißt der Umdefinition der Schuld der deutschen Wirtschaft in eine „moralische Verantwortung“, erst richtig deutlich. Denn dieser Taschenspielertrick, der auch im Auditorium der erwähnten Festrede nicht auf Widerspruch stieß, bedeutet nichts weniger als eine Umkehr der Rollen von Opfer und Täter. Wenn nämlich die deutsche Wirtschaft schuldig ist, muss sie in Dankbarkeit und Bescheidenheit das Angebot zur Versöhnung ihrer Opfer annehmen. Will sie jedoch „moralische Verantwortung“ übernehmen, haben sich die Opfer in Dankbarkeit und Demut zu üben für die Almosen, die ihnen zufallen. Es ist die zweite Variante der Rollenverteilung, die die deutsche Wirtschaft sich zugedacht hat. Gentz machte das an zwei Punkten deutlich. Beim ersten Mal als er voller Stolz darauf verwies, dass es der deutschen Verhandlungsführung gelungen sei, die Berechnung der Entschädigungsleistungen nach wirtschaftlicher Situation der Opfer vorzunehmen. Dies ist ein völlig absurdes Verfahren, denn es wird im allgemeinen immer auf die Leistungsfähigkeit des Täters abgestellt, da der ja Buße tun und reuig sein soll. Die deutsche Wirtschaft stellt hier ganz deutlich die Dinge auf den Kopf.

Zum anderen berichtete Gentz, dass die Opferverbände untereinander gestritten hätten über die Aufteilung der zugesagten Mittel. Er stellte fest, dass es keine Solidarität unter den Opfern gäbe. Dies alleine stellt natürlich einen Skandal dar, denn viele der Opfer würden gar nicht mehr leben ohne die tagtägliche Solidarität untereinander und deshalb ist die Forderung nach Solidarität unter den Opfern von Seiten der Täter bzw. deren Nachfolgern und Vertretern kein Zeichen von Dankbarkeit und Bescheidenheit sondern eines von Arroganz und Hohn, das die Opfer zum zweiten Mal demütigt.

Die juristische Schuldfrage, die Gentz immer wieder von sich gewiesen hat, und durch „moralische Verantwortung“ ersetzt sehen wollte, kommt aber in einem anderen historischen Kontext wieder auf den Tisch. Nach dem Krieg wurden viele deutsche Unternehmen nämlich selbst Opfer indem sie von der Sowjetunion bzw. der DDR enteignet wurden. Diese Enteignung bezog sich zwar nicht auf Leib und Leben, sondern lediglich auf Grund und Boden, dennoch genügt der deutschen Wirtschaft die Tatsache, dass sie sich in der Opferrolle wiederfindet, um juristische Ansprüche zu entdecken. Es ist nicht einmal bemerkt worden, dass sich die deutsche Wirtschaft in dieser Beziehung mit der Anerkennung einer „moralischen Verantwortung“ des Staates ihr gegenüber zufrieden gegeben hätte. Und so kommt es, dass etwa die IG Farben in Liquidation, eine der verbrecherischsten Vertreterinnen der deutschen Wirtschaft in der Nazizeit, im Einklang mit der Gentzschen Weltsicht auf gerichtlichem Weg Rückübertragungsansprüche auf riesige Ländereien in der Gegend um Merseburg, Leuna und Buna stellt, während gleichzeitig die enteigneten Zwangsarbeiter, die auf eben jenem Land in eben jenen Fabriken schuften mussten, mit Almosen abgespeist werden sollen, die die deutsche Wirtschaft nur aufgrund einer „moralischen Verantwortung“ zu geben bereit ist. Es ist diese Groteske, dieser Widerspruch, dieser Skandal, den Gentz zu vertuschen sucht.

Was aber ist nun „Moralische Verantwortung“? Das ist ein Begriff, der zutreffend ist für das Verhältnis zwischen S-Bahnfahrer und den MOTZ-Verkäufer. Dem letzteren fühlt sich der erstere nämlich verpflichtet, einmal im Monat oder alle zwei Monate ein Exemplar seiner Zeitung abzukaufen. Genauso gut könnte der Fahrgast aber auch den Wachschutz holen und den Verkäufer hinauswerfen lassen. Nach Gentz‘ Sicht sind die Zwangsarbeiter in der Rolle der Zeitungsverkäufer. In Wirklichkeit sitzt aber die Wirtschaft in einem Zug mit Fahrtziel Zukunft und die Zwangsarbeiter sind die Kontrolleure, die das Recht haben, ein gültiges Ticket zu sehen. Dieses Ticket kann nicht allein mit Geld gekauft werden, Voraussetzung für den Erwerb ist auch ein gültiges Schuldanerkenntnis.

Für die Beziehung zwischen der deutschen Wirtschaft und den Zwangsarbeitern ist der Begriff „moralische Verantwortung“ völlig untauglich, denn den Zwangsarbeitern wurden Jahre ihres Lebens geraubt, ihre Arbeitskraft, Gesundheit, manchen das ganz weitere Leben zum Albtraum gemacht und sehr viel wurden umgebracht. Die deutsche Öffentlichkeit von diesen Tatsachen abzulenken ist das eigentliche Verdienst der deutschen Verhandlungsdelegation. Diese Ablenkung darf aber nicht verwechselt werden mit Wiederherstellung oder Sicherung des Ansehens Deutschlands oder der deutschen Wirtschaft. In absehbarer Zeit wird die Schuldfrage wieder gestellt werden und niemals wird die Übernahme moralischer Verantwortung das Bekenntnis zur eigenen Schuld ersetzen können.

Christian Müller