Nachtwächter

Ein kühler Abend war das in London, es nieselte leicht. James schloss eine der zahlreichen Seitentüren des Bankgebäudes der Bank. Ein großes Bauwerk, grau und schwach beleuchtet von den Straßenlaternen. James, der Nachtwächter kannte jede Nische, jede Ecke der Fassade. Das Walkie-Talkie in der Hand, so stand er nun wieder vor dem Haupteingang. So wie am Tag zuvor und an jenem davor. So wie seit acht Jahren. Es fuhren Autos vorbei, heute nicht so viele. Es fing an zu regnen. Kalt, … nass, … Autos, … James. Hier und da mal ein Passant.

James, der Nachtwächter, der für Sicherheit sorgt. Er trägt Verantwortung, passt auf, dass keine ungebetenen Gäste nachts die Bank betreten, dass sich keine Besoffenen vor den Haupteingang legen, und so vieles mehr. Er hält das englische, nein das globale System am Laufen, nicht nur die da oben. Die Konzernbosse, die Politiker, die Showmaster.

„Leute wie ich sind es, die den anderen ermöglichen, das große Geld zu machen“, sagte er sich, während er den Parkplatz inspizierte, die Taschenlampe als ständiger Begleiter. „Ohne mich würde das System zusammenbrechen, so wie ein Kartenhaus, bei welchem man eine der unteren Karten herauszieht. Aber vielleicht übertreibe ich ja. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vermutlich verdränge ich damit die Kälte... Mist, es regnet schon wieder.“

Die Glocke einer nahegelegenen Kirche war zu hören. Es war 1 Uhr morgens. Eine Dame, leicht bekleidet, rosa Minirock, Netzstrumpfhose, näherte sich. „Na Kleiner, wie wär’s mit uns?“ Sie wischte sich mit der Zunge die Oberlippe. „Du kleines Luder“, empörte sich James, „hast dich wohl verlaufen!“ – „Laberkopp“. Die Absätze klapperten in den Regen hinein.

„Wieso passiert hier eigentlich nichts? In acht Jahren hat es nicht einmal gebrannt. Niemand hat sich je getraut, nachts in diese Bank einzudringen. Ebenfalls waren noch keine Terroristen hier. Was mache ich hier eigentlich? Wenn es so weitergeht, wird meine Stelle noch überflüssig. Wie lange werde ich noch hier bleiben? Diese Gegend ist einfach zu sicher geworden. James, der Retter in der Not, doch wo ist die Not?“

Erneut stand er vor dem Haupteingang. Es fuhren kaum noch Autos. Unter dem fahlen Licht einer Straßenlaterne waren zwei dunkle Gestalten zu erkennen.

„Was werden die wohl jetzt unternehmen? Ach so, die gehen einfach weiter. Noch vier Stunden, dann ist meine Schicht vorbei. Und was dann? So sieht also meine Welt aus, gestern sowie morgen …

Aber irgendwann kommt doch der Tag. Jemand wird in die Bank eindringen. Scheiben werden klirren. Ich werde mitten im Geschehen sein, reagieren, die Polizei alarmieren. Einsatzwagen werden das Gebäude umstellen. Die Terroristen, es werden doch Terroristen sein, werden drohen, sich zusammen mit der Bank in die Luft zu sprengen. Über dem abgesperrten Bezirk werden Hubschrauber kreisen. Da ich, James, alle Gänge und Nischen im Gebäude kenne, wird es auch nicht lange dauern, bis die Banditen gefasst werden. Die Bank wird gerettet und ich komme als ‚James der Retter’ auf die Titelseite der Daily Sun. Irgendwann ist es so weit, bald...“

Die Schicht war also zu Ende. Ausschlafen. Nachtmenschen schlafen lang.

Auch die folgende Nacht begann mit einem Rundgang mit der Taschenlampe. „Heute ist es trocken, hinter der dünnen Wolkenschicht sieht man ja den Vollmond.“ Die Straße vor dem Haupteingang war wie leergefegt. Ein starker Wind blies Blätter von den Bäumen. Die silberne Fassade des gegenüberliegenden Versicherungsgebäudes schimmerte leicht, als die Wolken den Mond wieder freigaben. Die Ruhe wurde nun durch ein fernes Geräusch gestört. Es kam vermutlich aus dem Seitenflügel der Bank. James machte sich auf den Weg, als er sie sah. Etwa fünf Leute waren damit beschäftigt, auf ein Vordach zu klettern. Scheiben zerbrachen. Unter dem matten Licht des Mondes war zu erkennen, wie einige von ihnen ins Innere des Bauwerks drangen. Im Training hatte er gelernt, dass man sich Einbrechern nicht direkt nähern sollte. Also suchte er Schutz hinter einem Auto, anstatt den Helden zu spielen. Mit dem Walkie-Talkie benachrichtigte er die nahegelegene Polizeistation, wodurch einer der Ganoven auf ihn aufmerksam wurde. „Weg hier“, schrie dieser, während im gesamten Gebäudekomplex die Sirenen ertönten. In Windeseile erschienen unzählige Einsatzwagen. Obwohl sich die Diebe in alle Richtungen verteilten, waren sie nach knapp einer halben Stunde alle gefasst.

„Welch eine Nacht. James der Retter“, dachte er sich.

„Guten Morgen, Sir. Würden Sie eine Zeugenaussage machen?“, fragte der Polizist höflich. Als er die Aussage machte, hörten ihm mehr als 10 Polizisten aufmerksam zu. Draußen vor dem Dezernat warteten sogar zwei Leute von der Presse. Wahrscheinlich würde ihm am nächsten Tag der Abteilungsleiter gratulieren, wäre dieser nicht verreist. Ein strahlend blauer Himmel verstärkte schließlich am Morgen das überschwängliche Gefühl seines Triumphes. In für ihn ungewöhnlichem Freudentaumel näherte er sich seiner Bank, die ihn empfangen würde, wie nie zuvor. Von außen war am Gebäude nicht mehr viel zu erkennen, er hatte ja auch schlimmeres verhindert. Die Arbeiter, die die Scheiben ersetzten sollten, haben ihre Arbeit längst beendet und tranken Kaffee in der Eingangshalle, während er eintrat, er der Held der Nacht.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte eine junge Angestellte, vermutlich eine Auszubildende, höflich. „Ich bin James, der Nachtwächter“, erwiderte er schon ahnend. „Freut mich, Sir“, entgegnete sie routiniert, „was kann ich für Sie tun?“ Er betrachtete die Umgebung, reges Treiben, viel Arbeit. „Die Bullen waren heute morgen hier“, hörte er aus einem Hinterzimmer. „Was war denn los?“, fragte eine andere Stimme. James lief durch die Kundenhalle und schließlich durch die Gänge des Gebäudes. Die Kollegen schienen ihn nicht sonderlich zu beachten, einige sagten ‚hallo’. Es dauerte nicht lange bis er begriff, dass all seine Aussichten einer Seifenblase glichen.

Gezeichnet, gedemütigt, ignoriert, verließ er das Gebäude. Der leere Blick wandte sich zum Parkplatz. Da saß er wieder mit einer Zeitung auf der kleinen Bank neben dem Haupteingang, suchte nach einem Bericht über den Banküberfall, vergeblich. Die Autos rasten an ihm vorbei, wie immer.

Hardy David Stein