Raumschiff Wiwiprice

Der Fortsetzungsroman des 3. Jahrtausends

Heute: Teil 1 von insgesamt 1

Berlin Mitte. Unendliche Weiten. Wir befinden uns in einer nahen Gegenwart. Dies sind die Abenteuer des neuen Raumschiffs Wiwiprice, das viele Meter vom Roten Rathaus entfernt unterwegs ist, um neue Gerichte zu entdecken, absurde Modelannahmen und obskure Öffnungszeiten. Die Wiwiprice dringt dabei in Sphären vor, die nie ein Mensch zuvor sehen wollte.

Es begann seine glorreiche Mission vor zehn Jahren von der Erde. Seitdem hat es sich indes in einem n-dimensionalen Raum von Elitedenken, Sparmaßnahmen und eigenartigem Essen verloren. All diesen lebensgefährlichen Gefahren trotzend steuert der unerschrockene Kapitän das Schiff zielstrebig und unbeirrt durch die Untiefen des Universums. Da allerdings jedes Jahr wer anders Kapitän ist, schlingert das Schiff seither auf Zick-Zack Kurs quer durch den Raum.

Wenn es nach den Offizieren, den Vertretern des ersten Standes, ginge, könnte das Raumschiff ohne weitere Passagiere, dem dritten Stand, gemächlich vor sich hin schippern. Aber nein, jeden Tag kriechen Heerscharen unwürdiger Kreaturen aus allen Teilen des Universums an Bord, vor allem aus den entfernten Galaxien China, Schwaben und KW. Die Besatzung, die diese Eindringlinge als existentielle Freiheitsbedrohung ansieht, forscht nun schon seit Jahren mit immensen Anstrengungen in ihren extra dafür eingerichteten Forschungsfreisemestern daran, wie man sich diese aufdringlichen Aliens vom Hals halten könnte. Als erste Maßnahme wurde deshalb das legendäre Passagiersamt (PA) eingerichtet. Wie in solchen Ämtern so üblich, sitzen dort in einer kleinen Grotte meist rothaarige Vertreterinnen der lokalen Hexenstämme kichernd vor ihren leise vor sich hin dampfenden Giften und Windows-betriebenen Kristallkugeln. In Letzteren sehen sie in Trance zusammen mit dem zuständigen Hexenmeister Visionen von neuen, obskuren und unheilbringenden Regeln, die sie sofort in ihren Braukesseln unter hämischen Lachen zu langen Nadeln werden lassen. Mit diesen durchstechen sie dann langsam und gnadenlos das Rückgrat von den Voodoo-Puppen, die sie für jeden einzelnen Passagier angefertigt haben und liebevoll in einer nachgebauten StaBi aufgereiht haben. In der einen Ecke des Raumes ist ein Altar eingerichtet, an dem jederzeit und unvermittelt wehrlose Passagiere den großen Gottheiten „Es ist schon 1 Minute nach 12“ , „Anmeldeschluss für Prüfungen war gestern“, „Bürokratie“ und „Exmatrikulation“ geopfert werden können.

Da aber auch die im PA lebende Spezies die Passagiere recht bald als extreme Behinderung ihrer ohne jene nicht vorhandenen Arbeit empfanden, beschränken sie inzwischen ihre Öffnungszeiten auf ein kurzes Durchlüften der Grotte am frühen Morgen. Anschließend werden die Pforten vollautomatisch Punkt, also wirklich Punkt 12 mit riesigen Balken verriegelt. Beeindruckt von dieser Leistung dachten die Offiziere, dass sie so was erst recht können. Seitdem veranstalten sie generös einmal die Woche einen kurzen Durchzug mit Bittstellerduldung. Sehr geduldet sind die Passagiere vor allem dann, wenn der jeweilige Offizier gar nicht erst auftaucht, da es noch an der eigenen, unkündbaren Karriere zu basteln gilt. Zum Ausbaden werden extra Sekretärinnen von einem der zahllosen Stämme angeheuert, die über keinerlei Gefühlswelt besitzen, und deswegen seelenruhig den Passagieren erklären können, sie sollten es doch im nächsten Halbjahr noch mal probieren.

Seit neustem gibt es sogar Versuche, in einem speziell dafür eingerichteten Programm unschuldige Passagiere aus weit entfernten Galaxien anzulocken, um Ihnen endlich die Vorzüge der heimischen Bürokratie am eigenen Leibe näher zu bringen. Auf dass sie diese Errungenschaft weit hinaus in ferne Galaxien tragen, und diese damit zum ewigen Stillstand bringen.

Damit bestimmte Regelungen ja nicht länger als ein Jahr konstant bleiben, und der Nachschub an neuen, immer bizarreren Regeln nie ausgeht, wechselt wie beim Kapitän auch der für das PA zuständige Hexenmeister immer kurz bevor er weiß, worum es eigentlich ging. Dasselbe gilt natürlich auch für die zur Beratung der Passagiere abkommandierten Offiziere, die sich im ersten dreiviertel Jahr ihrer Amtszeit einarbeiten müssen, um einen danach an ihre zukünftige Nachfolger zu verweisen.

Das deckt sich einwandfrei mit der Mission des Schiffes, die sich strikt nach der obersten Direktive der Humboldtianischen Föderation richtet: Nicht einmischen. Vor allem nicht in die Belange der Passagiere. Und schon gar nicht in das Weiterkommen der Passagiere außerhalb des Schiffes.

Es gibt auf der Wiwiprice Gerüchte von sagenumworbenen Schiffen in fernen Galaxien, auf denen gewisse Zentren versuchen, den Passagieren nach dem Aus-Checken behilflich zu sein und auch schon während der Fahrt Tricks vermitteln, die nach dem Verlassen des Schiffes von Nutzen sein könnten. Schiffe, an denen es gewisse Counselor gibt, die sich für die Passagiere sogar mehr oder weniger interessieren, und wo mehr als zweieinhalb Besatzungsmitglieder Austausche mit anderen Schiffen organisieren. Nicht so an der Wiwiprice.

Noch schlimmer, einige Passagiere werden von den Offizieren gefangengenommen und auf brutalste Weise zwei Jahre lang gefoltert, z.B. durch Kaffeekochen und Kopieren lassen. Einige Jungfrauen opfern sich auch freiwillig dazu, da sie denken, sie würden damit die Götter gnädig stimmen. Sie verwechseln dabei leider die Offiziere mit den Göttern. Diese Fehleinschätzung ist weit verbreitet auf der Wiwiprice, vor allem unter den Offizieren.

Als Bordmechaniker, der zum zweiten Stand gehört, arbeitet an der Wiwiprice ein Wesen von einem Stamm, von dem behauptet wird, er habe magische Kräfte. Das Exemplar an Bord der Wiwiprice hat sich auf das Herbeizaubern von kleinen Schildern spezialisiert, auf denen steht: „Hier keine Kreide ablegen“. Da in anderen Teilen der Galaxis dieses Talent nicht gebührend bis gar nicht geschätzt wird, am Raumschiff Wiwiprice aber genau diese Fähigkeit besonders dringend gebraucht wurde, ergab sich eine perfekte Symbiose. Dem Vertreter des Stammes Waltarus wurde eine kleine Höhle zur Verfügung gestellt, die dieser sogleich mit Vorhängen und Bildern vergangener Zeiten der Einheitszauberei ausgeschmückt hat und die er mit den modernsten technischen Mitteln, wie z.B. einem Wachssiegel, vor den zahlreichen potentiellen Eindringlingen schützen muss. Von dort aus beobachtet er stundenlang die gefährlichen Ausschreitungen von Globalisierungsgegnern in R201, die sich dort jeden Tag mehrmals treffen. Ansonsten hat der Bordmagier freie Hand zum Herbeizaubern besagter Schilder, so dass es im ältesten und heruntergekommensten Teil des Schiffes, der Bordkappelle, zeitweilig aussah wie in einem Schilderladen, in dem man nirgendwo Kreide hinlegen darf. Nachdem das ganze Schiff also von oben bis unten vollgestopft war mit diesen Schildern, war er gezwungen, sich umschulen lassen. Nach einigen Lektionen bei seinem Zauberkollegen Boßmann ist er jetzt sogar in der Lage, die Schilder „Licht ausschalten“ und „Bitte beim Kopieren unbedingt die Lichtschutzklappe schließen!“ herbeizuzaubern. Damit die Toner von den Kopierern geschont werden, hat er das letzte Schild 500 mal kopiert und im ganzen Schiff verteilt. Besonders stolz ist er auf das immer wieder benötigte Schild „Havarie. Bitte die anderen Toiletten benutzen“. Ein Meisterstück!

Nicht nur die Passagiere, nein auch Automaten haben es nicht einfach auf der Wiwiprice. Ein Kaffee-Replikator macht schon seit Jahren auf sein Elend aufmerksam, indem er als Statusmeldung ein dauernd klagendes „Kaufbreit“ anzeigt, unbemerkt von den ihn weiter malträtierenden Passagieren. Daraufhin verleiht er seinen Depressionen Ausdruck durch die Ausgabe völlig ungenießbarer, heißer Plörre. Bei einer durchschnittlichen Verweildauer der Passagiere von 7 Jahren haben sich die meisten aber schon in den ersten beiden daran gewöhnt und trinken ihren Kaffeeersatz oder auch Sprudelwasser ohne Kalorien (an dem mit Kalorien wird noch emsig geforscht) in der Eingangshalle, wegen ihrer extremen Gemütlichkeit auch Aquarium genannt.

Das Schiff hat noch viele andere Räume, einige modern, z.B. die Büros der Besatzung, R203 und R125, einige alt und klapprig, z.B. alle anderen. So fühlt man in R201 die lange Historie des Schiffes wenn man sich in einen der eleganten Stühle mit roten Samtbezug setzt, die gleichzeitig als Schwamm für den Schweiß von Generationen von Passagieren dienen. Da liegt der Geruch von Tradition in der Luft.

Auch ein bordeigenes Restaurant existiert auf der Wiwiprice. Diese Hallen der Kulinarie sind wundervoll dekoriert mit Plakaten längst vergangener „Tage des guten Essens“, die allerdings an der Wiwiprice im Lichtjahresabstand vorbei gegangen sind. Das Buffet ist aufgeteilt in mehrere Bereiche: Erstens Salatdekoration, immer frisch zu Anfang des Halbjahres. Genau wie die Bockwürste die ein halbes Jahr in heißem Wasser schmackhaft gehalten werden. Dann gibt es Kakao ohne Strohhalm, Essen aus dem Solarium und Zucker mit lustigen Drudeln drauf, um die Passagiere bei Stimmung zu halten und eine Meuterei zu verhindern. In diesem entfernten Teil des Raumschiffes arbeiten kleine Weibchen des Stammes der Mensarier unter der Leitung eines einzigen, nicht ganz so kleinen männlichen Häuptlings. Die Weibchen dieser Spezies tragen eine dezente, aber doch hochmoderne und ansprechende Tracht, wohingegen männliche Häuptlinge ihr traditionelles Gewand am Tag der Ernennung angezogen bekommen, und es bis zum Abdanken anbehalten müssen. Weiterhin sind die Häuptlinge dieses speziellen Stammes von Q, einem gottähnlichen Wesen, das dort einmal essen war, verflucht worden, auf ewig singend den Gott des guten Geschmacks, Hermes, zu preisen. Vor allem wenn sie für ihr Essen an das Geld anderer Leute wollen, sind sie gezwungen dieses jahrein, jahraus in einem ewig gleichen Singsang zu tun. Den Weibchen ist das Reden strengstens verboten. Das oberste Leitmotto des Kochens ist: Alles ist erlaubt, solange man es nur ordentlich weichkochen kann. So wird hier doch einiges angeboten, um das man sich im häuslichen Bereich gerne drückt. Ein weiterer Leitsatz des Essens ist: „History repeats itself, vor allem Freitags“. Dann stellt sich die ewig gleiche Frage: „Fisch gelb oder Fisch weiß?“. Deswegen wartet das gesamte Schiff immer ein Jahr lang auf die legendäre Entenkeule kurz vor Weihnachten, um sich anschließend wieder auf nächste Weihnachten zu freuen.

Die wichtigste Direktive für die Passagiere ist daher Toleranz, Toleranz und Toleranz. Toleranz gegenüber allen möglichen Kulturen, Toleranz gegenüber allen möglichen Regeln, und Toleranz gegenüber allen möglichen Essen.

Auch ein Holodeck ist an Bord dieses gigantischen Raumschiffes. Früher im Room 128, der leider zwischenzeitlich implodiert ist, können sich die Passagiere jetzt in den Katakomben des Schiffes bei arktischen Temperaturen ungehemmt im Cyberspace verlieren. Damit aber nicht einfach jeder Bauarbeiter in diesen Hort der hochmodernsten Technik gelangt, wurden spezielle Codeabfragen eingeführt. Früher geschah die Eingabe dieser Codes verdeckt durch ein Teil des Duschvorhangs von Besatzungsmitglied Viehweger, nun ist auch hier High-tech eingezogen. Allerdings habe clevere Computerhacker herausgefunden, dass man die Codeabfrage mit An-die-Tür-klopfen auch überlisten kann.

Zu allem Unglück ist das angestammte Sternsystem der Wiwiprice vor nicht allzu langer Zeit von den Yuppijanern unter Leitung ihres Flagschiffes, dem Domaquarell, invasiert worden. Nachdem dem halbwegs befreundeten Schiff SAS in einer Blitzattacke der Totalgaraus gemacht wurde, geriet auch die Wiwiprice in einen erbitterteren Kampf auf Leben und Tod mit dem auf‘s Messer verfeindeten Schiff. Leider zog die Wiwiprice dabei den extrem Kürzeren und trug schwerste Schäden davon, im völligen Gegensatz zum Domaquarell. Das gesamte Seitendeck ist durch den Ausfall der Schutzschilde in eine tiefe Raum-Zeit Inkontinenz geraten. Die Raum-Inkontinenz äußert sich durch das kaum mehr aufzuhaltende Wegbröckeln des Seitenschiffs ins Vakuum, während man die Zeit-Inkontinenz durch einen Vergleich der öffentlichen Uhren einfach erkennen kann. Die meisten Räume sind von dieser Zeit-Inkontinenz sogar so stark betroffen, dass man dort nach 20 Minuten das Gefühl hat, man verweile schon eineinhalb Stunden darin.

Aufgrund des bevorstehenden Warpkernbruches konnte zum Glück ein leerer Frachter aus den Anfangszeiten des Universums ganz in der Nähe ausfindig gemacht werden, in dem man jetzt schöne Büros mit herrlichen Blick über die gesamte Galaxis für die Besatzung eingerichtet hat, die hoch über den verfallenen Kojen der Passagiere und dem PA thronen.

Dann gibt es noch eine Geheimorganisation der Passagiere, genannt StuRa (kurz für Stunning Raggamaffins). Das Verhältnis der Passagiere zu ihr ist dasselbe wie zur Riester-Rente: Alle kennen sie, aber keiner hat eine Ahnung, was das ist. Trotzdem sollte man sich mal drum kümmern, scheint ja wichtig zu sein.

Am Ende der Reise kann man dann das Schiff unbemerkt durch den Hinterausgang verlassen, oder sich in eine 3- bis 6-monatige Isolationshaft begeben, um Sachen zu vollbringen, von denen man vorher gar nicht wusste, dass man sie kann, womit man auch Recht behalten soll. Anschließend kriegt man einen feuchten Händedruck und einen Spendenvordruck.

Insgesamt lässt es sich auf der Wiwiprice also vor aus zwei Gründen aushalten. Erstens existiert ein ständig wiederkehrenden Fest, bei dem einige, die noch nicht über Bord gegangen sind genau dies feiern. Andere betrauern dies, aber für beide Gruppen scheint der Alkohol dabei keinen abnehmenden Grenznutzen zu haben.
Zweitens gibt es an Bord ein hochwertiges Nachrichtenmagazin, dass sich ganz der seriösesten Berichterstattung verschrieben hat, und deshalb weit hinaus in ferne Galaxien berühmt ist. Zumindest in den Galaxien, wo die Verwandten der Redakteure wohnen.

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