Früher

Manchmal gewinnt man einen besseren Blick, wenn man sich von einer Sache entfernt. Als gerade in Prag lebender Ausländer wird man natürlich bei jeder neuen Begegnung gefragt, woher man stammt. Wenn ich dann Berlin sage, erlebe ich fast jedes Mal das gleiche Schauspiel. Es ergießt sich ein wahrer Schwall von Lobpreisungen über die „fantastischste aller Städte: Berlin“. Ich bin das schon gewohnt und verfahre nach dem Motto: „Ich mach mir mal in der Zwischenzeit ‘nen Tee, sag mir wenn du fertig bist“.

Diese riesige Schwärmerei stimmt mich schon befremdlich, und hinzu kommt noch der Fakt, dass mir jeder Zweite beteuert, auch demnächst nach Berlin ziehen zu wollen.

Wie Ameisen zum im Wald liegengelassenen Honiglöffel, strömt die ganze Welt nach Berlin. Zudem ist es nun schon soweit, dass jeder jemanden kennt, der schon in Berlin wohnt. Wirkliche Berliner kennt so gut wie niemand. Doch was ist ein wirklicher Berliner? Ich denke, wir alle können uns darauf einigen, dass der Chef unserer Mensa Herr Krischker in Berliner ist, wie er im Buche steht. Doch darüber hinaus wird‘s schwierig. Ist man nach fünf Jahren in Berlin ein Berliner?

Oftmals hatte ich den Eindruck, Berliner ist man, wenn man vor den anderen Zuzüglern da war. Denen kann man als „richtiger“ Berliner dann Geschichten von früher erzählen. „Früher, da war ich noch auf der Loveparade, doch damals war die noch auf dem Ku‘damm und richtig cool. Seit sie auf dem 17. Juni ist, gehe ich da nicht mehr hin!“ „Früher war ich noch auf dem Karneval der Kulturen, doch der passte damals noch locker auf den Mariannenplatz und war nicht so kommerziell wie heute.“ „Früher, da war da, wo jetzt die Bank drin ist, ein Houseclub namens suicide“. Man kann mit diesem „früher“ einen ziemlich coolen Eindruck schinden und den Neuankömmlingen weismachen, sie hätten das Beste schon längst verpasst, während man selbst die wirklich wilde Berliner Zeit noch miterlebt hat. Am besten kommt es, wenn man sich beschwert, dass in Berlin alles so kommerziell geworden ist. Man selbst hat nämlich noch die wirklich kreative Zeit miterlebt und natürlich mitgemacht. „Früher, ja früher, da war noch...“

Ich lebe in Berlin seitdem ich eingeschult wurde und ich muss sagen, dass ich diese „Früher“-Sprüche höre, seitdem ich das erste Mal im Dunkeln draußen bleiben durfte. „Früher, als die Oberbaumbrücke noch nicht offen war“, „Früher, als die Mauer noch stand“. Diese „Früher“ reichen zurück bis in Urzeiten, man kam immer zu spät! Oft werden die Sprüche dazu benutzt, um sich selbst wichtig zu machen oder darüber hinweg zu täuschen, dass man selbst das Gefühl hat etwas verpasst zu haben.

Ich finde Berlin verändert sich immer noch rasant. Dies bemerkt man besonders gut, wenn man nicht mehr in Berlin lebt. Darüber hinaus tragen diese „Früher“-Mythen dazu bei ein, völlig überhöhtes Bild von Berlin zu zeichnen und dem Berlinhype neue Nahrung zu geben.

Dieser Hype führt beispielsweise dazu, dass fast alles, was auch nur im entferntesten mit Jugend zu tun hat, in Berlin gedreht wird. Ich glaube, ich würde nicht arm, wenn ich fünf Euro für jeden Jugendwerbespot bezahlen würde, der nicht Berlin im Hintergrund zeigt. Diese und andere Hype-Elemente führen zu diesem erstaunlichen Bild Berlins, welches man bei Nichtberlinern vorfindet. Obwohl ich meine Stadt mag, muss ich sagen, dass Berlin wie jede andere Stadt auch Vor- und Nachteile hat und dass man als junger Mensch auch sehr gut in anderen Städten leben kann.

Doch es gibt ein „Früher“, welches auch mich mit Ehrfurcht und unglaublichem Staunen erfüllt. Dieses kann man sich auch von einem echten Berliner, nämlich Herrn Krischker, erzählen lassen. „Früher, als es in der Wiwi- Fak noch keine gesperrten Räume gab und das ganze Haus benutzbar war.“ Was für traumhafte Zeiten es doch damals waren.

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