Neuneinhalb Wochen

Die scheinbar endlos langen Semesterferien im Sommer, der vage Verdacht, dass meine Englischkenntnisse einen kleinen Auffrischer vertragen könnten und nicht zuletzt ein gewisses Fernweh haben zu meiner Entscheidung geführt, für zwei Monate nach Großbritannien zu gehen. Nach gründlichem Recherchieren im Internet und stundenlangem Wälzen einschlägiger Kataloge zum Thema Auslandserfahrungen, kam für mich eigentlich nur ein Arbeitsaufenthalt in Frage. Dieser hat neben dem Sammeln praktischer Erfahrungen den Vorteil, dass man Geld verdient und der Aufenthalt so finanzierbar wird.

Vor allem Hotels sowie Ferien- und Vergnügungsparks suchen gerade während der Sommermonate händeringend Personal. Die Bewerbungsprozedur ist relativ einfach. Mehrere Sprachreiseveranstalter vermitteln Arbeitswillige gegen eine Gebühr ins Ausland. Man kann diese Gebühr aber auch sparen und sich direkt bei den Ferienparks im Internet bewerben. Dort füllt man ein Online-Formular aus und kurz darauf wird ein Telefoninterview mit dem Bewerber vereinbart, bei dem die Details abgeklärt werden.

Ich hatte mich bei der Tussauds Group beworben, zu denen unter anderem der Vergnügungspark „Alton Towers“ (bei Birmingham) gehört. Dort wurde ich als General Assistent eingestellt und sollte wahlweise in Bars, Restaurants, Hotels oder im Park selbst eingesetzt werden. Um eine Unterkunft brauchte ich mich glücklicherweise nicht kümmern, da spezielle Unterkünfte für Seasonal Workers zur Verfügung gestellt wurden. Mir war klar, dass diese Wohnungen nicht unbedingt dem deutschen Standard entsprechen, allerdings war ich auf das, was mir Anfang August dann als mein Zimmer übergeben wurde, auch nicht vorbereitet. Die Unterkunft war eine einzige Katastrophe, alles klebte, roch oder war kurz vorm Zerfallen. Und dafür sollte ich umgerechnet 400 Euro Miete im Monat zahlen. Hinzu kam, dass ich plötzlich in einer der gefährlichsten Gegenden Englands lebte, wo alte Spritzen auf der Straße und Schüsse in der Nacht zum Alltag gehörten. Das einzige, was diese Stadt je hervorgebracht hat, war Robbie Williams, und auch das ist ja irgendwie bezeichnend.

Nach einer Beschwerde beim Chef konnte ich jedoch sofort umziehen. Das neue Zimmer war auf jeden Fall besser, nur wohnte ich nun mit 16 Deutschen zusammen, was den interkulturellen Sprachaustausch nicht wirklich förderte. Auf Arbeit wurde ich ausgerechnet im Housekeeping eingesetzt, weil dort chronische Unterbesetzung herrschte und auch dort wimmelte es nur so von Deutschen. Mein Versuch, den Job zu wechseln und im Restaurant oder an der Bar eingesetzt zu werden, blieb leider erfolglos, so dass ich nach einer Woche bei Alton Towers kündigte und mit einigen anderen Deutschen in einen Holidaypark nach Skegness an die Ostküste zog. Dort wurden vor allem Servicekräfte für Shops und Restaurants gesucht. Skegness ist ein bei britischen Familien sehr beliebter Ferienort und mit all seinen Kasinos, Spielhöllen, Clubs und Achterbahnen erinnert diese 5000-Seelen-Gemeinde vor allem nachts an ein kleines englisches Las Vegas. Im Ferienpark selbst sah es nicht anders aus. Ich habe noch nie so viele Glücksspielautomaten auf einmal gesehen. Von überall tönten irgendwelche nervtötenden Melodien und Animateure versuchten gute Laune zu verbreiten.

Als wir unsere Unterkunft zugewiesen bekommen haben, machte sich bei allen der Eindruck eines Déjà-Vu breit. Dreckige Bäder, versiffte Teppichböden - das hatten wir doch schon mal. Diesmal war die Miete mit umgerechnet 170 Euro im Monat so gering, dass man darüber hinwegsehen konnte. Nach einer Putzaktion am ersten Abend und dem Bekleben der Wände war es sogar recht gemütlich. Arbeitsmäßig hatte ich ebenfalls wesentlich mehr Glück. Diesmal wurde ich in einem Restaurant als Kellnerin eingestellt. Gerade Anfang September, kurz vor Ende der englischen Sommerferien, war es „totally busy“, so dass ich am Anfang auf 60-Stunden-Wochen kam. Das hat sich natürlich ausgezahlt und obwohl ich nur den gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet 6,50 Euro abzüglich Steuern bekommen habe, konnte ich an meinen freien Tagen ohne finanzielle Sorgen quer durch das Land reisen, was sich ohne Frage enorm gelohnt hat.

Ansonsten wurde mein Alltag, der im Prinzip aus Schlafen, Essen, Arbeiten und Weggehen bestand, durch viele kleine Geschichten begleitet, wie sie eigentlich nur aus der Feder eines Daily-Soap-Autoren stammen können. So wurde kurz nach meiner Ankunft mein Chef des Diebstahls überführt, gefeuert und sofort in einem anderen Restaurant im Park als neuer Manager eingestellt. Ein anderes Mal hatte das halbe Küchenpersonal Krätze, was aber erst einmal niemanden davon abhielt, weiter seiner Arbeit nachzugehen und wieder ein anderes Mal erwischten wir unseren neuen Chef, dessen Frau gleichzeitig seine Chefin ist, beim Knutschen mit einer Kollegin von mir.

Das Leben im Park hatte schon einen enormen Unterhaltungswert, auch wenn dadurch mein Bild von der britischen Bevölkerung sehr gelitten hat. Denn wer in Holidayparks wie diesen gearbeitet oder Urlaub gemacht hat, gehört nicht unbedingt zur geistigen Elite des Landes. Fernab von Sex, Drugs and Rock‘n Roll gab es für viele meiner Kollegen keinen Gesprächsstoff mehr. Das Geld, was diese Leute verdienten, wurde konsequent in Alkohol und Zigaretten umgesetzt, und wenn man zufällig Freitag nachts am einzigen Geldautomaten des Parks vorbeilief, stand davor eine lange Schlange, weil pünktlich um ein Uhr das Gehalt der letzten Woche überwiesen wurde. Ein Großteil der Feriengäste war nicht viel besser, zwar wollten die Leute hin und wieder wissen, wo ich herkomme, aber dabei blieb es dann auch. Interessierte und weltoffene Menschen traf ich eigentlich nur, wenn ich unterwegs war und Städte wie York, London oder Edinburgh vermittelten mir das Bild von dem geschichtsträchtigen und zugleich modernen Großbritannien, das ich erwartet hatte.

Trotzdem haben sich die zwei Monate auf der Insel gelohnt und ich möchte keine Minute davon missen. In der Zeit sind viele Freundschaften entstanden und die Erfahrung sich in einer ausländischen Arbeitwelt zu integrieren, empfinde ich als sehr wertvoll. Gerade für jüngere Semester ist diese Art des Auslandsaufenthalt besonders geeignet, da es ohne Vordiplom bisweilen etwas schwierig ist, an ein gutes Praktikum im Ausland zu kommen.

[az]